Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Bei Gertrud Kolmar fällt – wie bei keiner anderen deutschen Dichterin – die große Diskrepanz auf zwischen der literarischen Geltung vor allem ihres lyrischen Werkes und der mangelhaften Resonanz auf dieses Werk in der Öffentlichkeit. Obwohl Gertrud Kolmar von der Literaturkritik in einem Atemzug genannt wird mit anderen jüdischen Autorinnen wie Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Rose Ausländer oder Hilde Domin, haben ihre Gedichte kaum Eingang gefunden in die Lesebücher und die maßgeblichen Anthologien der letzten Jahrzehnte. Das mag an dem störrischen Gestus der Gedichte liegen, an ihren einzelgängerischen Bilderwelten, die den Lesern ein erhebliches Maß an Einfühlungsvermögen abfordern. Oder liegt es eher an dem unspektakulären Leben der Dichterin, die nach einigen Jahren als Erzieherin und Sprachlehrerin in den Haushalt des Vaters zurückkehrte und dort, bis zur Zwangsarbeit in Berliner Rüstungsbetrieben und bis zum Tod in den Gaskammern von Ausschwitz, eine unauffällige, leise Existenz führte? Das Fragezeichen ist hier mehr als nur berechtigt. Dieter Kühn hat in seinem Buch über Gertrud Kolmar – Untertitel: »Leben und Werk, Zeit und Tod« (Frankfurt am Main 2008) – auf über sechshundert Seiten das assimilierte Judentum geschildert, in dem Gertrud Kolmar herangewachsen ist – großbürgerlich, als Tochter eines renommierten Berliner Strafverteidigers, die in ihren Gedichten zunehmend zum Thema machte, was sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht ansprechen durfte: die Bedrohung des Judentums, seine bevorstehende Auslöschung. Im Ringen Jakobs mit dem Engel (»Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.«) fand sie dafür ein biblisches Bild, das sie auf irritierende Weise begleitete. Kennzeichnend für ihre Gedichte sind auch, neben der melancholischen Grundeinstellung, die wiederkehrenden stigmatisierten Personen: schuldbeladene Außenseiter, Fremde, Hässliche, Entwurzelte. In der darin aufscheinenden Leidensmystik erinnert Gertrud Kolmar durchaus an Christine Lavant, die radikale Katholikin.
Eigentlich hieß die Dichterin Gertrud Käthe Chodziesner nach dem Geburtsort des Vaters, der aus der kleinen Stadt Chodziesen in der preußischen Provinz Posen stammte. 1878 wurde der Ortsname in Kolmar arisiert, ein Namenswechsel, den die Dichterin mit ihrem Pseudonym nachvollzog. Wer möchte, kann daran die gesellschaftliche Anpassung des städtisch orientierten, liberalen Judentums ablesen – und gleichzeitig die mühsame, schmerzhafte Rückkehr zu den Wurzeln erahnen, die auf die Dichterin nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wartete. Der erste Gedichtband von Gertrud Kolmar erschien 1917 auf Veranlassung des Vaters in dem kleinen Berliner Verlag Egon Fleischel und Co. Danach legte Gertrud Kolmar eine schöpferische Pause ein und machte erst wieder Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger Jahre mit Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften auf sich aufmerksam. 1934 kam dann in der Rabenpresse von Victor Otto Stomps ein zweiter Lyrikband heraus, der den sonderbaren Titel »Preußische Wappen« trug. Dem Gedichtzyklus dienten als Vorlage Sammelbilder in Zigarettenpackungen, wobei die heraldischen Elemente lediglich Anlass waren für visionäre, die Orte und ihre Wappen überwuchernde Bildassoziationen. Auch die dritte und letzte Buchveröffentlichung zu Lebzeiten der Dichterin basiert auf einem Gedichtzyklus. »Die Frau und die Tiere« wird 1938 in einem jüdischen Buchverlag unter dem bürgerlichen Namen der Autorin Gertrud Chodziesner publiziert und schon bald danach während der Reichsprogromnacht eingestampft. Fast gleichzeitig mussten Vater und Tochter ihre Villa mit Garten (ein Sehnsuchtsort der Dichterin!) im Berliner Vorort Finkenkrug verlassen und wurden in ein »Judenhaus« eingewiesen. Gertrud Kolmar blieb bei ihrem Vater, für den sie sorgte, bis es zu spät für eine Flucht war; ihre jüngeren Geschwister hatten dagegen das Land noch rechtzeitig verlassen.
Entdeckt wurde das lyrische Werk von Gertrud Kolmar erst posthum bei Lambert Schneider 1955 und bei Kösel 1960. Das war weit mehr als eine literarische Wiedergutmachung, nämlich eine Offenbarung. Deutlich zeigen diese wie alle späteren Veröffentlichungen, dass Gertrud Kolmar als Einzelgängerin schrieb. Was sie veröffentlichte, hatte keinen Resonanzboden in der Literatur ihrer Zeit und ist bis heute unvergleichbar, obwohl einige Interpreten, unter ihnen vor allem Johanna Woltmann, versucht haben, das Werk von Gertrud Kolmar zu deuten. Am ehesten einen Zugang für heutige Leser eröffnet wohl der Auswahlband, den Ulla Hahn 1983 in der Bibliothek Suhrkamp vorgelegt hat. Ihr Nachwort nähert sich der Dichterin genauso wie der Frau, die ihr abgetriebenes Kind nie vergessen konnte und uns als große Einsame viele Rätsel hinterließ. Zu diesen Rätseln gehören die dunklen Tiergedichte genauso wie die weit überzeichneten Preisgedichte auf die Jakobiner und besonders auf Robespierre: »Du nichts als Schatten: / Den eine Gottheit warf.« Bis hinein in das Zeitdokument ihrer Briefe an die Schwester im Schweizer Exil bleibt Gertrud Kolmar eine Dichterin der »Verwandlungen«, der unausdeutbaren Spiegelungen: »Ich will die Nacht um mich ziehen wie ein warmes Tuch / Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch, / Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht, / Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.«
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »blues in der früh« (Ed. Toni Pongratz, Hauzenberg 2015).
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