Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Zwischen dem ersten Gedichtband von Rainer Malkowski, der 1975 unter dem Titel »Was für ein Morgen« verlegt worden ist, und dem neunten und letzten »Die Herkunft der Uhr« (2004) liegen fast drei Jahrzehnte. Alle Einzelausgaben, geordnet nach ihrem Erscheinungsdatum, sind in dem voluminösen Band »Die Gedichte« dokumentiert, der 2009 herauskam und das in Buchform publizierte lyrische Werk des Autors vollständig erfasst. Der Göttinger Wallenstein Verlag hat auf diese Weise das Oeuvre des Dichters davor bewahrt, dass es nur noch versprengt in Anthologien dahinkümmert. Die bescheidenen Auflagen der Erstveröffentlichungen lassen ohnehin kaum mehr als Zufallsfunde in Antiquariaten zu. Trotzdem muss ich gestehen: Lyrische Gesamtausgaben, auch wenn sie eine Fülle an Entdeckungen ermöglichen, schüchtern mich eher ein. Lieber halte ich mich an die Einzelbände von Rainer Malkowski, in diesem Fall an »Die Herkunft der Uhr«. Beim Carl Hanser Verlag ein Jahr nach dem Tod des Lyrikers herausgekommen, enthält das schmale Buch 41 Gedichte, die der Autor noch selbst druckfertig zusammengestellt hat, und weitere 29 Texte aus dem Nachlass, an die Malkowski »wohl noch letzte Hand anlegen wollte«, wie es in dem profunden, freundschaftlich abwägenden Nachwort von Albert von Schirnding heißt. Beide Textgruppen sind, was für die editorische Sorgfalt spricht, in zwei Kapiteln getrennt voneinander abgedruckt, wobei unter den Gedichten auch zehn lyrische Skizzen auftauchen – nur auf den ersten Blick flüchtig hingeworfene, in Wirklichkeit aber streng durchkomponierte Notate. Mit ähnlich luftigen Prosastücken hatte Malkowski unter dem Titel »Im Dunkeln wird man schneller betrunken« schon einige Jahre zuvor seine Leser überrascht. Wer bei diesen »Hinterkopfgeschichten« an die vieldeutigen, abgründig absurden »Maulwürfe« von Günter Eich denkt, irrt sich nicht in der Ahnengalerie, obwohl beide Autoren literarisch einiges trennt.
Der typische Malkowski-Ton prägt auch die Gedichte im neunten Buch des Autors. Bis auf zwei gereimte Ausnahmen sind die Texte wieder metrisch völlig frei angelegt. Ihr spannungsreicher innerer Rhythmus erschließt sich erst beim lauten Lesen. In einer poetologischen Selbstauskunft hat Malkowski einmal seine Methode, Gedichte zu schreiben, »als eine zähe, schwerblütige Art der Hervorbringung« charakterisiert, »die immer wieder Stockungen unterliegt.« Den fertigen Texten aber merkt man ihren schwierigen Produktionsprozess nicht mehr an. Sie verraten den »Wahrnehmungsvirtuosen« (Nico Bleutge), dessen präzise Beobachtung des Alltags sich mit der Oberfläche zu begnügen scheint, bis die Leser plötzlich auf Risse in den Beschreibungen stoßen. Dann öffnet sich eine unvertraute Welt. Den Schlüssel zu dieser Welt liefert das »kostbarste Erbgut« des Menschen: »die Frage«, deren Sprengkraft Malkowski sehr oft für seine Gedichte nutzt. Sie ist das Instrument, das die geschilderte Wirklichkeit erhellen kann – oder verdüstern. Was immer sich hinter der Oberfläche verbirgt, für den Autor (und nicht nur für ihn!) gilt: »Reduziert / auf das Sichtbare: / wer könnte so leben.«
Auch in den nachgelassenen Gedichten des Autors kehren Themen wieder, die seine Leser schon aus früheren Lyrikbänden kennen. Der leidenschaftliche Augenmensch, der unter einer schweren Augenerkrankung litt, erweist sich noch einmal als jemand, der sehr genau hinsieht, obwohl er mit einem bitteren Anflug von Resignation feststellt: »Mich reut / der nachlässige Gebrauch / meiner Augen.« Im Bewusstsein des baldigen (Krebs-)Todes hebt Malkowski an zu einer »Verteidigungsrede / für jede Narrheit, / die das Leben ist«, und dem Nashorn im Zoo gilt seine Sympathie, weil er beim hundertsten Versuch scheitert, »es in ein Gedicht hineinzukriegen.« Eine Seite weiter findet der Leser dann eben dieses Gedicht auf das Nashorn »als ungelöstes Rätsel.« Die Ironie, ein bevorzugtes Stilmittel des Autors, wird in den letzten Texten von Malkowski nur noch verhalten eingesetzt. Stattdessen begegnet uns ein bilderloses Meisterwerk der Aussparung wie das »Epitaph für einen leisen Erzieher« oder ein Loblied auf »Die Fighter«, in dem Malkowski an Boxern der Vergangenheit wie Willi Höppner gerade nicht ihren »Punch«, sondern ihre »Nehmerqualitäten« rühmt. Trotzdem sind viele der Texte unverkennbar von Abschiedsstimmung geprägt. So spricht Rainer Malkowski über das »Fortgehen auf Probe« und formuliert im zweiten Kapitel des Buches eine ergreifende, nur noch in gesprochener Form, auf Band, überlieferte Bitte: »Urteilskraft / verlaß mich nicht, lös dich nicht auf mit den Tabletten.« Da wird der hinter vielen literarischen Spiegeln verborgene Autor zum schockierend unliterarischen Zeugen der eigenen Existenznot. Auch das titelgebende Gedicht, mit dem ich schließen will, hat das nahe Ende im Blick: »Die Uhr kommt von der Hoffnung. / Die Uhr / kommt vom Sterben.«
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011). Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.