Wiedergelesen – Folge 36: René Schickele, der »zweisprachige Grenzvogel«

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Von den vielen erzählenden Büchern, die René Schickele, der Autor aus dem Elsass, geschrieben hat, ist keines im literarischen Gedächtnis geblieben. Ähnlich erging es seinen Gedichten bis auf ein, zwei Ausnahmen. In der »Menschheitsdämmerung«, der ersten, großen Anthologie expressionistischer Dichtung, 1919 herausgegeben von Kurt Pinthus, findet sich die »Predigt an das Großstadtvolk«. Sie hat mich erst auf die Spur des Dichters gebracht, weil ich über das vorangestellte Motto gestolpert bin. Schickele lieh es sich ausgerechnet bei Richard Dehmel, dem erfolgreichen, arrivierten Schriftsteller des wilhelminischen Kaiserreiches, von dem sich die Expressionisten sonst eher kritisch absetzten. In diesem Fall aber wird er durch einen deutlich jüngeren, im Literaturbetrieb noch gar nicht richtig angekommenen Kollegen zunächst einmal wörtlich genommen. »Ja, die Großstadt macht klein.«, heißt es bei Dehmel, der dann enthusiastisch fortfährt: »O lasst euch rühren, ihr Tausende. Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen«. Die Großstadt in Schickeles Gedicht ist freilich nicht mehr der Gegenpol zur Natur, sondern das Zentrum der Macht, »weil von hier die bewaffneten Züge hinausgeworfen werden / auf mordglänzenden Schienen«. Die Ahnung des bevorstehenden Krieges, der manchmal begeistert und manchmal zitternd vor Angst beschworen wird, gehört zu den inhaltlichen Grundelementen expressionistischer Dichtung, genauso wie das Stadtthema oder das Thema der Macht: »Hier sollt Ihr bleiben! / in diesen bedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern. / Niemand soll Euch vertreiben! / Ihr werdet mit der Stadt die Erde Euch erobern.« René Schickele war aber auch ein Dichter, der aus einer zutiefst katholischen Welt stammte. Und so überrascht seine Predigt durch eine unmilitärische Volte, geradezu einen Sprung in die Frömmigkeit: »Höre mich, o Gott! / Ich glaube an dich, / denn wenn du nicht wärst, müsste ich morden.« Am Ende des Gedichts wird sogar das Kommen Gottes beschworen, das der Dichter am »Aufruhr« seiner Kräfte spürt. Der Überschwang der Massen, die »im Takt der millionen Rücken, / im Hin und Her der millionen Glieder / bis an die fernsten Küsten« branden, mündet in den Überschwang des Glaubens.

René Schickele wurde am 4. August 1883 in Oberehnheim, jetzt Obernai, im Elsass geboren. Er verstand sich zeitlebens als »zweisprachiger Grenzvogel« und nahm ganz bewusst eine Vermittlerposition ein zwischen der französischen und der deutschen Kultur. Schickele war, so könnte man ihn am treffendsten beschreiben, ein früher Europäer, der sich diesseits und jenseits des Rheins heimisch fühlte, bis man ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog. Im Ersten Weltkrieg emigrierte er als Pazifist in die Schweiz, gehörte so – abweichend von seiner »Predigt an das Großstadtvolk« – zu den wenigen Autoren, die den Wahnsinn des Krieges durchschauten und jede Gewaltanwendung ablehnten. Im Gegensatz zu anderen Expressionisten erhoffte er sich durch den Krieg auch keine Neuordnung der Gesellschaft in einer geläuterten demokratischen Welt. Schickele erwies sich damit, geimpft durch die elsässischen Erfahrungen, als der hellsichtigere Beobachter seiner Zeit. Das gilt auch für die Endphase der Weimarer Republik. Schon 1932 emigrierte er in das südfranzösische Fischerdorf Sanary-sur-Mer, das bald darauf Fluchtziel vieler deutscher Autoren sein sollte. Sein Exil war eigentlich keines, weil der Elsässer ohnehin als französischer Citoyen galt. Aber es schnitt ihn von seinem deutschen Publikum ab. Dabei hatte Schickele während der Zwanziger Jahre zu den erfolgreichsten deutschen Autoren gezählt. Damals fesselte er die Zuhörer bei zahlreichen Vortragsreisen und schrieb sich vor allem mit der Romantrilogie »Das Erbe am Rhein« (1925, 1927, 1931) in die Literaturgeschichte ein. Zeitlebens blieben ihm die »Kasernenhofmenschen« verdächtig, er schloss auch keine Kompromisse mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus: »Die Hakenkreuzspinne ist die giftigste aller bekannten Arten.« Der Visionär, der die »politische Sonnenfinsternis« früher als andere Autoren prognostizierte, starb am 31. Januar 1940, vereinsamt und verelendet, wenige Monate bevor die deutsche Wehrmacht in Frankreich einfiel.

Gegenüber dem Romancier René Schickele führte der Lyriker eher ein Schattendasein. Fast alle Gedichte von ihm sind vor dem großen Weltenbrand 1914 entstanden und bis in keiner Gesamtausgabe dokumentiert, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen würde. 1959 war bei Kiepenheuer&Witsch noch eine folgenlose dreibändige Werkauswahl erschienen, herausgegeben von Hermann Kesten, einem Freund des Autors. Seitdem herrscht Stille auf dem Buchmarkt; der Name von René Schickele taucht nur noch in Antiquariaten auf. Das war auch der Weg, auf dem ich »WEISS UND ROT« erwarb, eine erste repräsentative Gedichtsammlung, 1910 publiziert beim Verlag der weißen Bücher in Leipzig und teilweise schon deutlich expressionistisch beeinflusst. Im Laufe meiner Recherchen habe ich zusätzlich das Heft »Gedichte« gefunden, das Anna und Rainer Schickele 1969 als Nr. 2 der Kollektion »Notre Avenir est bilingue« herausgaben. Darin sind auch drei Gedichte aus dem Nachlass enthalten, zwei von ihnen zu meiner Überraschung Kindergedichte, darunter das Gedicht auf den »schnellen Salbei«, den ein böser, neidischer Wind verhext hat. »Herr Schickele« muss sich bücken und dreimal sprechen »Bikiksti fliksti«, um den Zauber zu brechen. Von den vielen Kinderlyrik-Anthologien der Nachkriegszeit hat meines Wissens keine diesen spielerisch-schönen Text berücksichtigt.

Am Anfang von »WEISS UND ROT« stehen die »LOBSPRÜCHE«, ein Zyklus aus zwölf Gedichten, die noch ganz dem späten Jugendstil verpflichtet und sehr üppig sind, überladen mit kostbaren Bildern. Da ist der Abend »wie eine vierzigjährige Frau« … »sie geht in einem großen, leeren Park am Weiher: / an den Hüften zwei brennende Tauben, ihr Schleier, / ein brennender Schwan die Federn auf ihrem Hut«. Das klingt, als hätte sich Schickele bei den mondänen Modeillustrationen der Jahrhundertwende bedient und diese noch einmal ins Phantastische überhöht. Das Gesicht der Geliebten ist »eine mystische Sonne« und die Liebe des Dichters »steht, ein gewaltiger Erzengel, vor dem Mond und hütet ihn.« Diese frühen Gedichte sind noch erfahrungsleere Talentproben. Wenig später dringt dann die Welt in das Angelesene und verändert es mit ihren Realien. In Berlin öffnet sich Schickele einem zeitgemäßen Balladenton und gibt sogar dem alten religiösen Topos von Unserer Lieben Frau einen frechen, blasphemischen Anstrich. Mit der Umgebung beginnt sich das Frauenbild zu verändern. Im »Nachtgewühl der Stadt« entdeckt er eine »in Unterröcken brennende Ophelia« und fühlt den Ekel ihres »Puppenherzens«. Daneben stößt der Leser jetzt auch auf ganz einfache, sehr konkrete Gedichte. Eines, vielleicht das schönste, hat René Schickele den »KATZEN« gewidmet, die sich »gewinnen lassen« und trotzdem ihre Unabhängigkeit wahren, denn plötzlich »sind sie mit wahrhaft musikalischem Sprung / in der blauen Luft verschwunden.«

Berlin und seine »für Mähmaschinen gebauten Straßen« – das ist die Stadt des pulsierenden Lebens, riesig, rätselhaft-schön, aber manchmal auch nur eine Stadt der kleinen Verzweiflungen, des Liebeskummers, der das lyrische Ich weit hinaus, bis nach Charlottenburg treibt: »Die Welt verriete ich für einen Autowagen!« Bei allen vermeintlichen und tatsächlichen Katastrophen, die dem Dichter widerfahren, bei allen disparaten Eindrücken, die auf ihn einstürzen, scheint der ehemalige Konviktschüler – jedenfalls deuten die Gedichte daraufhin – seinen Glauben nicht verloren zu haben. Immer wieder tauchen Himmelfahrtsbilder auf, die Sprache nähert sich oft dem Psalmenton oder heilige Frauen betreten die Szene; mehrfach ist dies Odilia (Ottilie), die bis heute im Elsass besonders verehrt wird, wie überhaupt viele Gedichte dem frommen und von der Geschichte geprägten »elsässischen Bildersaal« entstammen. Daneben hat René Schickele auch den »Sonnengesang« des heiligen Franzsikus übertragen, wobei sich seine Version deutlich abhebt von den uninspirierten Nachdichtungen unserer Tage. Es sind viele Zeilen und Bilder, die nach der Lektüre dieser Gedichte im Gedächtnis bleiben, wenn etwa ein Kind »lachend unter Sonnenblumen« steht, »die lebenswütig in den Himmel schauen« oder wenn sich in überschwemmten Wiesen »die schillernde Traurigkeit der Weiden« spiegelt. Vielleicht reicht das alles nicht aus, um heutige Leser wieder für die Lyrik von René Schickele zu interessieren. Lassen wir, statt darüber zu klagen, lieber drei Zeilen aus dem Gedicht »Pfingsten« für den Dichter sprechen: »Die Fische schaukeln den Himmel auf ihren Flossen / und sind von blitzenden Horizonten umringt, / Sonne tanzt auf den Rücken der Hunde.«

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »blues in der früh« (Ed. Toni Pongratz, Hauzenberg 2015).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

2 Kommentare

  1. Lieber Erich Jooß, durch Ihren /Deinen Beitrag ist mir erst richtig bewusst geworden, dass das Werk von René Schickele tatsächlich leider völlig in Vergessenheit geraten ist, wobei ich die Gedichte nicht kannte. Für die Wochenendbeilage “Freizeit-Woche” der österreichischen Tageszeitung “Kurier” habe ich Ende April – Anfang Mai 1984 eine Rezension verfasst über eine zweibändige Ausgabe der Romane (Die Witwe Bosca u.a.) und Erzählungen (Das gelbe Haus). Das Problem damals war, dass es in der Zeit vor dem Computer ein Formular der Redaktion gab, das die genaue Anzahl der Anschläge vorgab, was insbesondere bei der zweibändigen Ausgabe Schwierigkeiten bereitete, nicht näher ins Detail gehen zu können. Da ich derzeit auf Fuerteventura bin (Zweitwohnsitz), steht mir die Zeitung nicht zur Verfügung, um einen Scann zu machen, denn damals hatte ich noch keinen PC, sodass ich die Rezension nicht gespeichert habe.
    Jedenfalls nochmals Dank für den Schickele-Beitrag.
    Bei Gutenberg-Spiegel sind zum Glück einige seiner Werke zum Herunterladen.
    http://gutenberg.spiegel.de/autor/-1177
    Herzlich, Manfred

  2. Lieber Erich Jooß, durch Ihren /Deinen Beitrag ist mir erst richtig bewusst geworden, dass das Werk von René Schickele tatsächlich leider völlig in Vergessenheit geraten ist, wobei ich die Gedichte nicht kannte. Für die Wochenendbeilage „Freizeit-Woche“ der österreichischen Tageszeitung „Kurier“ habe ich Ende April – Anfang Mai 1984 eine Rezension verfasst über eine zweibändige Ausgabe der Romane (Die Witwe Bosca u.a.) und Erzählungen (Das gelbe Haus). Das Problem damals war, dass es in der Zeit vor dem Computer ein Formular der Redaktion gab, das die genaue Anzahl der Anschläge vorgab, was insbesondere bei der zweibändigen Ausgabe Schwierigkeiten bereitete, nicht näher ins Detail gehen zu können. Da ich derzeit auf Fuerteventura bin (Zweitwohnsitz), steht mir die Zeitung nicht zur Verfügung, um einen Scann zu machen, denn damals hatte ich noch keinen PC, sodass ich die Rezension nicht gespeichert habe.
    Jedenfalls nochmals Dank für den Schickele-Beitrag.
    Bei Gutenberg-Spiegel sind zum Glück einige seiner Werke zum Herunterladen.
    http://gutenberg.spiegel.de/autor/-1177
    Herzlich, Manfred

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