Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Ernst Blass, geboren am 17. Oktober 1890 in Berlin, zählt unter die einflussreichen Anfangsgestalten des Expressionismus und gehört trotzdem zu den großen Unbekannten unserer Literaturgeschichte. Thomas B. Schumann hat den Autor mit einer dreibändigen Werkausgabe zwar nicht aus der Vergessenheit geholt, aber wenigstens für Leser wieder verfügbar gemacht. Der Lyrikteil der Werkausgabe, 2009 erschienen, trägt die berühmte Verszeile »Die Straßen komme ich entlang geweht« im Titel, übrigens ebenso wie der durch den selben Herausgeber betreute Gedichtband bei Hanser im Jahr 1980, der allerdings bald wieder vom Markt verschwand. Ernst Blass hatte diesen Titel bereits über seine erste bahnbrechende Lyrikveröffentlichung im Jahr 1912 beim Heidelberger Verlag von Richard Weissbach gesetzt. Die Zeile selbst ist dem Gedicht »An Gladys« entnommen, das – wie man heute weiß – einer zehn Jahre älteren Geliebten gewidmet war und den Band eröffnet. Der unverwechselbar spöttische, gleichzeitig herausfordernde Ton des Gedichts bleibt schon beim flüchtigen Lesen im Gedächtnis: »So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht, / Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt. / Die Straßen komme ich entlang geweht. / Mit weichem Glück bin ich ganz belaubt.« Das ist gewissermaßen die Eröffnungsfanfare des Expressionismus; hier werden die bedeutungsschweren, in kostbaren Bildern schwelgenden Dichter der Zeit geradezu übermütig provoziert und mit leichter Hand demaskiert.
Im Leben von Ernst Blass geriet freilich nur wenig leicht. Noch eher nebenbei absolvierte er ein Jurastudium, das ihm – wohl auf Drängen seiner jüdischen Eltern – den Weg in einen bürgerlichen Beruf ebnen sollte. Gerade beim jüdischen Mittelstand, der im wilhelminischen Staat meist vergeblich um Anerkennung rang, war das eine gängige Perspektive, nicht aber für Ernst Blass. Er landete zunächst in der Berliner Bohème-Szene, im literarischen Kabarett der Zeit, machte die Bekanntschaft der wichtigsten jungen Dichter und gewann vor allem den einflussreichen Kurt Hiller als Mentor. In das Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultierte ihn dann sein erster Gedichtband, der ihn zeitlebens auf die Rolle des expressionistischen Umstürzlers festlegte, obwohl er diese Etikette schon bald danach wieder abstreifte. Von 1912 bis 1915 wechselte Blass an die Heidelberger Universität. Im metropolenfernen, eher ruhigen geistigen Klima lernte er Karl Jaspers, Ernst Bloch und Friedrich Sieburg kennen. Wegen seiner periodisch auftretenden epileptischen Anfälle musste er nicht in den Krieg. Stattdessen schlüpfte Ernst Blass als Archivar bei der Dresdner Bank unter: dort war sein Vorgesetzter der spätere nationalsozialistische Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht. Anfangs der Zwanziger Jahre verdiente er seinen Lebensunterhalt als Tanz-, Theater- und Filmkritiker, unter anderem beim »Berliner Tagblatt« und als Lektor für den Kunsthändler Paul Cassirer. Nach 1925 ging es mit dem Dichter »bergab«, eine Formulierung von Thomas B. Schumann. Neben der immer offenkundigeren Arbeitshemmung, die wohl psychische Gründe hatte, litt er unter einer fortschreitenden Erblindung. Zuletzt war der Mittellose auf Zuwendungen von Freunden angewiesen. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, konnte er nur noch in der »Jüdischen Rundschau« publizieren: »Nein, es ist schlimm, sensibel und arm zu sein«, notierte er. Am 13. Januar 1939 starb Ernst Blass an einer beidseitigen, viel zu spät erkannten Lungentuberkulose und wurde auf dem jüdischen Friedhof Weißensee bestattet. Schon damals waren seine literarischen Spuren verweht.
Oder doch nicht? Nach dem Krieg erinnerte fast jede Anthologie mit Texten aus dem ersten Lyrikband von Ernst Blass an den expressionistischen Dichter. Die Auswahl blieb freilich sehr begrenzt, der Blickwinkel der Herausgeber genauso. Wer einen gründlicheren, ab und zu auch verwirrenden und verstörenden Eindruck von dieser Lyrik gewinnen will, muss sich auf ihre Bilder einlassen, wenn etwa in dem Gedicht »Abendstimmung«, das mit seinem Titel ganz andere, sanftere Erwartungen stiftet, die »aufgebauschten Huren, / Sadistenzüge um die feine Fresse« porträtiert werden. Bei Ernst Blass, dem Expressionisten, »knallt« die Sonne »herunter auf den singenden Asphalt«. Unübersehbar sind die Menetekel an der Wand: »Es kommt ein Sturm, vor dem die vielen dicken / Bierwagen wie gehetzte Herden rennen.« In solchen Gedichten erwachen »Nerventräume«. Sie bilden das hektische Berlin ab mit seinen Barmixern und »Frauen wie aus Operetten.« Hoch über der Stadt aber hängt der Mond, »ein pittoresker Kegelkönig«. Das alles ist weit entfernt von den »dummen, platten / Kupletchen, die da schwärmen vom Begatten« – es schildert die gnadenlos ver-rückte Welt zwischen Kreuzberg und Potsdamer Platz, zwischen Brandenburger Tor und Hoppegarten, über der »die Sterne zucken zart wie Embryos / An einer unsichtbaren Nabelschnur.« Neben solchen kühnen, oft grellen Gedichten finden sich aber auch stillere, die dem Trennungsschmerz nachhorchen: »Liebte ich Dich? Du warst mir einerlei. / Beim Kaffeetrinken weinte ich noch leise.«
Seinem ersten Gedichtband hat Ernst Blass »Vor-Worte« vorangestellt. Darin schildert er – exemplarisch für eine Dichtergeneration – die extremen Pole, zwischen denen sich der Expressionismus bewegte. Einerseits feierte er die feurige, hinreißende Schönheit des Lebens, das »Sternschnuppenhafte einer Menschenexistenz«, ihre Einmaligkeit in der »herrlichen Weltwildnis«. Und andererseits kannte der expressionistische Dichter nur zu gut das »Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das Stimmungslose, das Idiotische, die Schmach, die Mießheit«. In solchen Extremen liegt vielleicht auch eine Antwort, warum der Expressionismus die Literatur nur kurzzeitig dominieren konnte und viele seiner Dichter sich schon bald wieder von ihm abwandten, falls sie überhaupt aus dem Krieg zurückkehrten. Ernst Blass vollzog bereits mit seinem zweiten Lyrikband »Die Gedichte von Trennung und Licht« (Leipzig 1915) eine radikale Wende und dieser Bruch setzte sich fort in den beiden weiteren Veröffentlichungen »Die Gedichte von Sommer und Tod« (Leipzig 1918) und »Der offene Strom« (Heidelberg 1920). Die Atemlosigkeit weicht jetzt der Stilisierung; die Synkopen und Dissonanzen, das Schnoddrig-Bizarre wird einer neuklassizistischen Ästhetik geopfert, wie sie Stefan George oder Paul Ernst pflegten: »Ja, Deutschland, deiner Not und deiner Feier / Sei diese Klage, dieser Sang erbaut, / Und deines Dichters schmerz-bewegte Leier / Berühre sich mit heimlicherem Laut.« Zugegeben, das ist ein besonders leertönendes Beispiel; es gibt auch jetzt noch Gedichte, die die Lebensangst des Dichters, sein Elend in einer fremd gewordenen Welt spüren lassen. Erst spät scheint Ernst Blass wieder zu sich gekommen zu sein durch eine nochmalige Volte. Der Lyriker, der nach 1920 kaum noch Gedichte publizierte, schreibt nun, der Neuen Sachlichkeit folgend, ganz einfache Texte, wenige nur, die verstreut erscheinen. In ihrer lapidaren Intensität aber beeindrucken sie heute mehr denn je: »Es fallen mir grüne Bäume ein / an einer staubigen Chaussee. / Langweilige Landschaft. Ich ziehe allein. / Ich ziehe und stecke im Weh. / Im Weh des Himmels, im Weh des Lands.«
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »blues in der früh« (Ed. Toni Pongratz, Hauzenberg 2015).
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