Wiedergelesen – Folge 7: »Helldunkel« von Heinz Piontek

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Heinz Piontek war in den 50iger und 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein oft zitierter und mit vielen Preisen ausgezeichneter Lyriker. Dann kam eine neue Generation (meine!), die mit ihren Vätern gnadenlos abrechnete, ganz besonders mit jenen Schriftstellern, die sie als konservativ ortete. Gesellschaftliche Relevanz hieß das Stichwort. Wo sie in den Augen der Kritiker fehlte, verfiel das so kritisierte literarische Werk der Ächtung. Heinz Piontek, der einst Hochgelobte, wurde schon wegen des in mehreren Büchern verarbeiteten Vertriebenenschicksals und erst recht als sogenannter »Naturlyriker« an den Rand gedrängt. Im Rückblick muss die eher konventionelle Erinnerungsprosa Pionteks sicherlich anders bewertet werden als die Lyrik, die eine bewundernswerte Vielfalt zeigt. Nicht vergessen darf man dabei, dass der plötzlich so kontrovers diskutierte Autor neben seiner ausgedehnten Übersetzungstätigkeit auch ein großer Förderer der zeitgenössischen Lyrik und vor allem von Nachwuchsautoren gewesen ist. Ich verweise nur auf seine Herausgebertätigkeit beim literarischen Jahrbuch »Ensemble« und auf die kluge Beratung und Betreuung jener Lyriker, deren Bände zwischen 1980 und 1986 mit schöner Regelmäßigkeit in der Münchner Edition herauskamen. Dass diese Edition ausgerechnet unter dem Dach des Schneekluth-Verlags erschien, der später zum trivialliterarischen Aushängeschild des Weltbild-Konzerns degenerierte, ist mehr als nur eine Randnotiz zur deutschen Verlagsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20igsten Jahrhunderts.

Einmal, fast nebenbei, hat Heinz Piontek seine eigene Poetik anschaulich-selbstbewusst skizziert. Damals, im Jahr 1964, gab er eine Anthologie heraus, die den unspektakulären Titel »Neue deutsche Erzählgedichte« trug. Anhand vieler Beispiele führte er vor, wie zeitgenössische Lyrik jenseits der Ballade das Erzählerische neu für dich zu definieren vermag. Dass er sich unter diese »erzählenden Lyrikern« rechnete, lässt sich nicht nur an der Empathie des Anthologisten ablesen. Auch seine eigenen Gedichte sind dem poetologischen Ansatz verpflichtet. Einer der letzten Gedichtbände Pionteks, den er 1987 unter dem lapidaren Titel »Helldunkel« publizierte, liefert zahlreiche gelungene Beispiele für das zwei Jahrzehnte zuvor spielerisch-suchend entwickelte Theorem vom Erzählgedicht. Dass der Band bei Herder verlegt wurde, erstaunt bis heute. Es blieb, wenn man von Paul Konrad Kurz absieht, der einzige Versuch des prominenten katholischen Verlags, im Lyriksektor Fuß zu fassen, wobei die Verantwortlichen wahrscheinlich gewusst haben dürften, dass Gedichte kein einträgliches Geschäft sind. Vielleicht wollten sie auch nur die schon damals offenkundige Diskrepanz durchbrechen zwischen der Nischenexistenz von Literatur in der katholischen Kirche und ihrer feierlichen »Heimholung« beim Aschermittwoch der Künstler.

»Helldunkel« ist als Motto ein Satz des Wiener Logotherapeuten Viktor Frankl vorangestellt: »Das Vergangene geht. Das Gewesene kommt.« Darin spiegelt sich der Geschichtsbegriff des Dichters, der selbst in seinen Gedichten ein Wanderer zwischen den Jahrhunderten war und sich in völlig unterschiedliche Epochen und historische Szenen einfühlte. Die Spannweite reicht dabei von der Klosterhaft des letzten bayrischen Herzogs aus dem Geschlecht der Agilolfinger, Tassilo III., bis zu den Napoleonischen Befreiungskriegen, von der Zeitenwende um 1500 bis zu den bitteren Erfahrungen der Kriegsheimkehrer nach 1945. Der Band ist in drei Kapitel gegliedert: »Herbstlich, winterlich«, »Mann Gottes« und »Entziffern – Aneignen«, so lauten die Überschriften. Das erste Kapitel besteht aus gereimten, stärker jahreszeitlichen Gedichten, das zweite, zu dem man parallel die Geschichten über Gideon, Samson, David und Elia im Alten Testament lesen sollte, aus biblischen Paraphrasen, während der dritte Teil märchenhafte, anmutig-leichte Themen (beispielweise einen Text über Hans im Glück) mit Abschiedsgedichten mischt. Besonders anrührend ist das Gedicht »Letzter Weg«, das Piontek dem Andenken seiner Mutter gewidmet hat. Die etwas uneinheitliche Zusammenstellung des Bandes sagt nichts aus über die Qualität dieser Lyrik, stattdessen sorgt sie eher für Überraschungsmomente. Ich schätze vor allem die metaphorische Kraft von Piontek und könnte jetzt seitenweise besonders nachhaltige Bilder zitieren. Noch wichtiger sind mir allerdings die großen Gedichtzyklen mit ihren enormen Spannungsbögen, darunter der Hamlet-Zyklus »Ein Sommernachtstraum« am Schluss des Buches: In diesem Zyklus erzählt Piontek noch einmal (gelegentlich zu wortreich), was wir schon immer gewusst haben über den dänischen Königssohn und trotzdem verändert sich beim Lesen unser Blick auf Hamlet: »Wer bis zum Äußersten geht, / darf auch vor dem Innersten / nicht haltmachen.«
 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

Ein Kommentar

  1. Sehr geehrter Herr Leitner,
    freut mich sehr, dass Sie mit Ihrem Beitrag den fast vergessenen Schriftsteller Heinz Piontek würdigen, der am kommenden Sonntag 90 Jahre alt geworden wäre.

    Heinz Piontek war ein Feingeist und Unangepasster, der nicht im breiten Strom schwamm.
    Das Poetische stellte für ihn per se schon eine Korrektur des Politischen dar. Ob es für Heinz Piontek ein Fehler war in seiner Lyrik keine politische Aktivität zu zeigen bleibt diskutierbar.

    Wie Sie zurecht schreiben engagierte sich H. Piontek für junge Lyriker. Viel zu verdanken haben ihm die nun etablierten Lyriker Rainer Malkowski (1939-2003) und Ludwig Steinherr.

    Grüße Sie recht freundlich
    Anton Hirner

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