Wiedergelesen – Folge 9: »Spindel im Mond« von Christine Lavant

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Am 4. Juli 2015 ist es hundert Jahre her, dass Christine Lavant, eigentlich Thonhauser, geboren wurde. Als Schriftstellerin nannte sie sich nach dem Kärntner Heimattal, das sie nur selten und nur für kurze Zeit verlassen hat. Ihr Leben war belastet von großer materieller Armut und überschattet von Krankheiten und körperlichen Gebrechen. Das alles machte sie in ihrer Welt zu einer geduldeten, bestenfalls bemitleideten Außenseiterin, die der heimatlichen Enge bloß schreibend (und malend) entfliehen konnte. Die auf vier Bände angelegte Ausgabe ihrer Werke im Göttinger Wallstein Verlag – 2014 begann der erste Band mit allen zu Lebzeiten der Dichterin veröffentlichten Gedichten – dürfte wohl nachweisen, dass Christine Lavant, die Autodidaktin, alles andere als geistig isoliert, sondern vielfältig literarisch-kulturell vernetzt war. Schon früh als poetische Einzelgängerin bewundert, stand sie beispielsweise in brieflichem Kontakt zu Dichtern wie Paul Celan, Hilde Domin oder Christine Busta. Erste Unterstützung erfuhr sie durch Ludwig von Ficker, der Jahrzehnte zuvor Georg Trakl gefördert hatte. Später wurde Thomas Bernhard zu einem entschiedenen Fürsprecher ihres Werkes. Seine Ausgabe der »Gedichte« (1987) in der Bibliothek Suhrkamp versah er mit der lapidaren Notiz: »Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.« Sowohl Georg Trakl wie Thomas Bernhard haben in sich geschlossene, obsessive Bilderwelten entworfen, die einen unwiderstehlichen Sog auf die Leser ausüben. Das verbindet sie mit der »Schmerzensfrau«, wie Christine Lavant gelegentlich genannt wurde.

Monologische Literatur, und sei sie es auch nur dem Anschein nach, verleitet Interpreten dazu, an ihr sehr stringente, oft auch völlig gegensätzliche Lesarten zu exerzieren. Es überrascht kaum, dass solche Lesarten auf den ersten Blick schlüssig erscheinen, weil sie die Texte mit der gleichen Ausschließlichkeit behandeln, die sie in ihnen vorzufinden glauben. So kann man Lavants Gedichte auch gendertypischen Fragestellungen unterwerfen und unter Heranziehung (auto-)biographischer Zeugnisse die katholische Welt dieser Gedichte als eine männlich dominierte Unterwerfungswelt deuten, gegen die die Autorin verzweifelt rebelliert hat. Ja, man kann sogar die Liebesbeziehungen von Christine Lavant, das Scheitern, die erfahrene Ausweglosigkeit, auf der Folie ihrer Auseinandersetzung und Abrechnung mit dem eigenen Gott in der Lyrik bewerten. Der Band »Spindel im Mond«, der 1959 beim Salzburger Otto Müller Verlag (dem Verlag von Georg Trakl und der frühen Lyrikbände Bernhards) erschienen ist und 150 Gedichte enthält, liefert dafür viele Belege, aber noch lange kein schlüssiges Erklärmodell. Lavants Gedichte leben von kraftvollen Bildern, die in zahlreichen Schattierungen und Bedeutungsabstufungen wiederkehren und einen ganz eigenständigen Bilderkosmos entwerfen. Es ist eine dörfliche, von der Moderne noch völlig unberührte, geradezu archaisch anmutende Welt, die sie zeichnet – vielleicht die Welt ihrer Kindheit, jedenfalls ein geschichtsferner Raum, eine sehr künstliche und trotzdem bedrohlich konkrete Welt, bevölkert von Hähnen (dem Petrusvogel!) und (Höllen-)Hunden, belebt von Birnbäumen, Haselsträuchern, Mohnköpfen und Zittergras, eingehegt von Wetterkreuzen und Wetterglocken: eine Welt der »herdlosen« Stuben, über der ein mitleidloser Mond steht.

Das »Katholische« in der Lyrik der Christine Lavant lässt sich an fast jedem ihrer Gedichte benennen und hat zunächst atmosphärische Qualität. Die Texte verwenden in der Liturgie und im Brauchtum des Kirchenjahres verankerte Wörter wie »Armseelenbrot«, »Salböl« oder »Johanniswein«; »Weihrauchwolken« hüllen die Leser ein und sie werden mit dem »bitteren Baum der Myrrhe« konfrontiert; die Seele ist von der Angst überwältigt, »unreif dem Tod in die Hände zu fallen«, folgerichtig führt der Weg zur Auferstehung durch das vorkonziliare Fegefeuer. Der Bogen der biblischen Bilder spannt sich von der Versuchung durch den »Natternbaum« im Paradies bis zur Passion und zu apokalyptischen Szenarien unter dem »Hungerstern«. Neben frommen, flehentlichen Bitten und Anrufungen (»Herr Jesus du, hilf allen, die verlassen sind«) bricht immer wieder ein maßloser, beinahe gewalttätiger Zorn hervor, wenn Lavant – eines ihrer zentralen Motive – beispielsweise im eucharistischen Brot nur den Stein zu erkennen vermag. Oder wenn sie den endgültigen Tod Gottes ausruft: »…ich nehme den mittleren Leichnam ab / und weiß, daß er niemals mehr aufersteht / mit seinen sinnlosen Wunden.« Solche blasphemische Radikalität reicht weit über die Klagen Hiobs hinaus. Parallelen dazu finden sich nur in der negativen Theologie der Mystik. Vielleicht verbirgt sich hinter solchen Gedichten aber auch ein großes, bisher kaum angesprochenes Thema, das auf das Leben der Autorin zurückweisen könnte: die Trauer über die Unfruchtbarkeit der Schöpfung. Es gibt freilich, am Schluss soll es gesagt sein, noch andere Tonlagen im schwermütigen Werk von Christine Lavant. Obwohl sie ihr Herz als (ängstliche) »Wachtel«, als »arme Kröte« und »Holzapfel« beschreibt, gelingt ihr doch in seltenen Momenten und Bildern eine Ahnung von »Heimkehr« und »Himmelfahrt«: »Geh lieber und hauche die Eisrose an, / denn im Birnbaum wartet vielleicht eine Meise, / deren Gelb dich erleuchtet wie nichts zuvor, / falls die Sonne in dir noch am Werk ist.« Und weiter: »… heim kommt nur der, der noch Herrlichkeit hat / und das Leuchten der Erde im Umkreis verteilt / wie da draußen der Brustfleck der Meise.«
 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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