Zum 70. Geburtstag von Erich Jooß: Die Anarchie der Worte

Wie Gedichte Kindern die Tür zur Welt der Sprache öffnen

Wenn mit Türangeln Fische gefangen werden, ein Krokodil den Menschenbraten übersieht oder ein Drache lieber Kirschen frisst als Füchse und Hasen, dann sind die Meister aus der Vers-Schmiede am Werk. Denn es gilt, lyrische Nachwuchsarbeit zu betreiben und die nachwachsende Generation der Leserinnen und Leser zu gewinnen. Um diese Aufgabe miteinander zu bewältigen, sind die beiden Lyriker, Herausgeber und Verleger Erich Jooß und Anton G. Leitner angetreten.

Die Journalistin Sabine Zaplin (BR / SZ) spricht mit Anton G. Leitner, dem Lyriker, Herausgeber und Verleger der buchstarken Jahresschrift DAS GEDICHT über seine Begegnung und die Zusammenarbeit mit Erich Jooß und über einen besonderen Zugang der beiden zu Gedichten für Kinder.
 

Anton, im Lauf Deiner lyrischen Arbeit hattest Du immer wieder mit Erich Jooß zu tun. Er ist selber Lyriker und mit seinen Gedichten schon oft in der von Dir herausgegebenen Lyrik-Zeitschrift »DAS GEDICHT« erschienen. Gleichzeitig war er auch Verleger, genau wie Du. Für einen Dichter und Lyrikkenner wie Dich ist es von großer Bedeutung, auf verlegerische Mitstreiter wie Erich Jooß zu treffen. Wie war Eure erste Begegnung? Und wie hast Du Erich Jooß als Verleger erlebt? Was hat ihn ausgezeichnet?

Erich Jooß und ich kennen uns seit über drei Jahrzehnten. Zum ersten Mal bin ich ihm in den Achtzigerjahren auf einer gemeinsamen Literaturtagung des Sankt Michaelsbundes und der Verlagsgruppe Bertelsmann mit der Hanns-Seidel-Stiftung begegnet. Damals war ich Vorsitzender der »Initiative Junger Autoren« (IJA) und trat in Wildbad Kreuth wie ein junger Wilder bzw. als Lyrikrevoluzzer auf. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich seinerzeit vom Rednerpult aus mit dem damaligen bayerischen Kultusminister anlegte, was die überwiegend älteren Teilnehmer der Tagung zunächst in Schockstarre versetzte. Der erste, der sich aus der Starre löste, war Erich Jooß. Er nahm mich am Rande des Literaturtreffens zur Seite und hörte sich meine Kritik, aber auch meine Vorschläge sehr genau an. Danach ist mir Erich immer wieder auf Veranstaltungen und Empfängen begegnet, aber es hat lange gedauert, bis wir enge Freunde geworden sind. Erst nach der Gründung des Verlags Sankt Michaelsbund, der Erichs absolutes Lieblingsprojekt war, sind wir in näheren Kontakt gekommen. Jooß hatte wohl über all die Jahre aus der Distanz mitverfolgt, was ich schreibe und herausgebe, angesprochen hat er mich, als ich für die edition Chrismon (und damit für die Evangelische Kirche in Deutschland) eine poetische Trilogie edierte. Er hat mich nach München eingeladen, und dann sind wir miteinander beim Italiener um die Ecke ausgiebig Essen gegangen. Wir waren uns schnell sympathisch und haben ein erstes großes Projekt ins Auge gefasst, nämlich die intermediale »Hoffnungspoesie« zum 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München, aus der später das Buch »Die Hoffnung fährt schwarz« hervorgegangen ist. Ich habe Erich, der sicherlich von Terminen umstellt war, als jemand erlebt, der für seine Autoren immer Zeit hatte, für sie da war, wenn es einmal ein Problem gab, und von sich aus anständige Honorare anbot. Dabei hat er auf denkbar unaufdringliche und charmante Art auch seine Vorstellungen in die Entwicklung des Projekts einfließen lassen. Zensurversuchen, wie ich sie durchaus immer wieder bei weltlichen Verlagen erlebe, war ich übrigens in kirchlichen Häusern erstaunlicherweise nie ausgesetzt.

Zuletzt hast Du mit Erich Jooß an dem wunderbaren Band »Ein Känguru mit Stöckelschuh« zusammengearbeitet, es ist im Jahr 2012 im Verlag Sankt Michaelsbund erschienen – eine Anthologie, die neue Gedichte für Kinder versammelt. Wie entstand die Idee zu diesem Buch?

Die Gedichtsammlung für Kinder, »Ein Känguru mit Stöckelschuh« war das vierte Buchprojekt, das ich im Verlag Sankt Michaelsbund mit Erich Jooß realisiert habe. Nach den beiden sehr erfolgreichen Anthologien »Die Hoffnung fährt schwarz« und »Ois is easy. Gedichte aus Bayern« markiert das Erscheinen der »Känguru«-Sammlung gleichsam den Höhepunkt unserer Zusammenarbeit. Ich hatte bereits im Jugendbuchbereich mehrere Anthologien bei dtv/Hanser gemacht, die bei der Kritik für Furore sorgten und sich sehr gut verkauften, insbesondere »SMS-Lyrik. 160 Zeichen Poesie« im Handyformat. Das Büchlein erlebte innerhalb weniger Monate mehrere Nachauflagen und die FAZ beispielsweise attestierte ihm, es hätte eine neue literarische Gattung begründet. Nachdem ich mit den dtv/Hanser-Titeln bundesweit viel an Schulen gegangen bin und mit Jugendlichen gearbeitet habe, war mein Wunsch groß, meine Erfahrungen auf ein noch jüngeres Lesepublikum auszuweiten, nämlich auf Kinder. Erich, der in seinem Verlag immer wieder auch illustrierte Kinderbücher vorgelegt hatte, war sehr angetan von meiner Idee, zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker einzuladen, eigens Gedichte zu verfassen, die Kinderherzen höher schlagen lassen sollten. Als Illustratorin konnte Erich Jooß die in Hamburg lebende Künstlerin und mehrfach ausgezeichnete Kinderbuchillustratorin Heidrun Boddin gewinnen.

Im »Känguru« haben namhafte zeitgenössische Dichterinnen und Dichter für Kinder geschrieben, darunter Franzobel, Said oder Gerhard Rühm. Du kennst ihre anderen Arbeiten gut. Worin besteht der Unterschied, wenn Dichter, die gewöhnlich eine erwachsene Leserschaft haben, für Kinder schreiben?

Eigentlich gibt es für einen Schriftsteller keine reizvollere Aufgabe, als für Kinder zu dichten oder Poesie von Kollegen zu sammeln, die Kindern gefallen könnte. Denn wer Verse für kleine Leser schreibt, wird dabei selbst wieder jung und hat die lausbübische Lizenz, schreibend die Welt auf den Kopf zu stellen. So, wie es beispielsweise der inzwischen verstorbene Berliner Schriftsteller Mario Wirz für uns tat: »Jemand machte aus einer Mücke / einen Elefanten / Nun fliegt er / etwas tollpatschig / über die Stadt / und sticht jeden, / der ihn auslacht.« Es stellt für mich immer wieder ein besonderes Faszinosum dar, wie genau und präzise sich viele Kollegen in die komplexe Erlebniswelt von Kindern einfühlen können, und wie bestechend einfach Lyriker auf einmal zu dichten imstande sind, wenn sie sich beim Schreiben Kinder als Adressaten vorstellen. Egal, welches Thema sie umkreisen, sie treffen dann stets einen poetischen Ton, der generationsübergreifend ein Publikum, also Groß und Klein, unmittelbar anspricht und keine weitergehende Erfahrung im Umgang mit Gedichten voraussetzt. Paradebeispiel in der »Känguru«-Sammlung ist für mich in dieser Hinsicht der in Halle lebende Lyriker und Herausgeber André Schinkel, der sonst relativ komplizierte Gedichte für Erwachse schreibt. Eigens für uns bzw. für Kinder verfasste er so wunderbare, leicht schwebende und humorvolle Verse wie »Das Mammut sitzt nicht mehr im Gras, / Das kommt, weil es der Urmensch aß.«

Was zeichnet denn ein gutes Kindergedicht aus? Gibt es da besondere Auffälligkeiten? Und sind Dir Reaktionen von Kindern auf diese Gedichte bekannt?

Kinder sind Sprach-Anarchisten, und in diesem Punkt nehmen sie es mit gestandenen Dichtern auf, in denen oft noch immer ein Kind versteckt ist. Dieses muss nur angestupst und geweckt werden, etwa durch die Einladung zur Mitarbeit an einer entsprechenden Anthologie. Dann wächst zusammen, was zusammengehört.

Wenn ich als Lyriker eine Grundschule besuche, um den Schülern Gedichte vorzulesen, erlebe ich, wie sich meine anfangs überdrehte und zappelige Zuhörerschaft mehr und mehr sammelt und konzentriert. Schließlich könnte man sogar hören, wie eine Stecknadel zu Boden fällt. Dann aber platzt es aus ihnen heraus und sie können sich plötzlich kugeln vor Lachen, ja geradezu diebisch freuen, wenn sie beispielsweise von fliegenden Elefanten hören, die einst vor ihrer poetischen Verzauberung als schlichte Mücken durch die Luft schwirrten. Und wenn es mir gelingt, dieses noch im besten Sinne »unverbildete« Publikum, das meist mit üppiger Fantasie ausgestattet ist, selber zum Verse-Schmieden anzustiften, dann darf ich zur Belohnung in kühne, bilderreiche und bisweilen surreal anmutende Strophen eintauchen.

Solche Workshops oder »Vers-Schmieden« hast Du immer wieder für Schüler angeboten. Was für ein besonderes Sprachgefühl besitzen Kinder Deinen Eindrücken nach? Wie gehen sie selber mit Sprache allgemein und mit Gedichten im Besonderen um?

Je komischer im Sinne von schräg und je lautlicher ein poetischer Text ist, umso mehr Aufmerksamkeit ist ihm bei jungen Zuhörern oder Lesern gewiss. Ich habe erlebt, wie Kinder spontan singend mit eingestimmt haben, als ich ihnen das »Seefahrerlied« des skurrilen österreichischen Wortakrobaten Franzobel vorgelesen habe: »Ja, so eine Schifffahrt, die ist lustig, ja, so eine Schifffahrt, die ist schön. Hollari, hollaroh, hollaröh …« In manchem Kind schlummert aber auch ein kleiner Vers-Philosoph. Und der bohrt nach Antworten auf Fragen, die sich viele Erwachsene nicht mehr zu stellen trauen, außer es handelt sich bei ihnen um einen Dichter wie den in Wien lebenden Georg Bydlinski: »Macht man Pudelmützen aus Pudeln? / Wo sind im Dudelsack die Dudeln? / Wohnen im Fahrradschloss Gespenster? / Haben Schneckenhäuser Fenster?« Wenn man Kindern die »richtigen« Gedichte vorsetzt, also auch welche aus dem Bereich des »Poetry Slams« wie jenes »Matschgedicht« des Darmstädter Poeten Alex Dreppec, dann johlen sie geradezu vor Begeisterung: »Du glitschst mit Deiner Patsche, / meine Matschrutsche futsch, / auf der ich plitscheplatsche / durch den Matsch durchflutsch’.« Ein gutes Gedicht muss nicht nur gut klingen und swingen, sondern vor allem einen gewissen »Saufaktor« in sich tragen, das heißt, es muss auch Borsten zeigen und Reibungsflächen bieten, sprachlich etwas riskieren. Von ihren Müttern mit Lillifee-Lektüren verhätschelte Kinder sehnen sich oft nach nichts mehr als nach einer kleinen Schlammschlacht, und deshalb lieben sie es, wenn eine solche auch einmal in einem Gedicht stattfindet.

Wie siehst Du, gerade in Bezug auf ein junges, künftiges Lesepublikum, die Zukunft der Lyrik? Ist eine verlegerische Arbeit, die auf ein Kinderpublikum zielt, sinnvoll? Und findet sie Anerkennung? Wird sie Auswirkungen auf die künftige Akzeptanz der Lyrik haben?

Ich glaube, dass Gedichte gerade bei Kindern eine große Zukunft haben. Denn es handelt sich um überschaubare Textgebilde, die es im besten Falle schaffen, komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Lyrik kommt vom Saiteninstrument Lyra, Gedicht von lateinisch dicere (sprechen), d. h. sie ist oft sehr rhythmisch angelegt, dadurch gut memorierbar und wegen ihres Bilderreichtums eignet sie sich hervorragend zur filmischen Umsetzung in Clipform. Videoplattformen wie YouTube, die ja gerade beim jungen Publikum immer mehr jene Funktion übernehmen, die das Fernsehen bei Erwachsenen einnimmt, bieten inzwischen viele Poesieclips für jung und alt. Wir betreiben dort den lyrik-tv-Kanal »DAS GEDICHT clip«, der viel von Jugendlichen angeschaut wird. Ich habe auch jahrelang zusammen mit einem E-Gitarristen und Musikproduzenten auf Schulbesuchen Gedichte musikalisch aufgeführt, teilweise in Zusammenarbeit mit Schauspielern wie Anna Thalbach oder Alexander Khuon, bei Eichborn LIDO gab es unser Programm »Herzenspoesie« auch als CD. Allerdings braucht es zur Lyrikvermittlung aufgeschlossene und engagierte Lehrkräfte, Bibliothekare und Verleger wie Erich Jooß einer war, also Menschen, die für die Poesie brennen und sich furchtlos sowie vorurteilsfrei ihrem modernen Formenreichtum und ihren Facetten öffnen. Es ist heutzutage möglich, Fontanes »John Maynard« gerappt zu rezitieren, und das wird Kinder mehr begeistern, als eine konventionelle, konfrontative Darbietung nach dem klassischen Wasserglas-Lesungsprinzip. Ein akademisch schwurbelnder Dichterlangeweiler oder ein Lehrer, der sich sklavisch an den Lehrplan hält, oder, salopp formuliert, nur Gedichte aus grauer Vorzeit kennt, wird in dieser Hinsicht keinen Durchbruch bei Kindern schaffen.

Versdichtung muss Spaß machen und imstande sein, ein Publikum generationsübergreifend zu unterhalten. Damit solche Erfahrungen möglich werden, braucht es einen Verleger, wie Erich Jooß es war. Einen, der großzügig Geld in die Hand nimmt, und das Kreuz hat, Projekte zu realisieren, an die sich ein Verlag mit starrer Programmschiene niemals trauen würde. In dieser Hinsicht öffnete Jooß der Poesie eine wahre Oase inmitten eines katholischen Medienhauses. Es waren Zeiten, die ich in meinem Leben nicht missen möchte, und dafür bin ich Erich Jooß unendlich dankbar. Ich wünsche ihm noch viele sprachschöpferische Jahre als Lyrikschaffender, denn über all seiner Vermittlungstätigkeit ist bisweilen fast ein wenig untergegangen, dass er über ein erhebliches eigenes Kreativpotential verfügt. Der Gattung Poesie kann man nur viele Verleger wie ihn wünschen, auch wenn diese im Moment kaum in Sicht sind, da Verlage inzwischen lieber Betriebswirten und Marketingstrategen vertrauen, als dem Instinkt und Mut eines neugierigen Verlegers der alten Schule.

+ Über Anton G. Leitner

 

+ Über Sabine Zaplin

Die Herausgeber von DAS GEDICHT, Anton G. Leitner und Kerstin Hensel, gratulieren zusammen mit der Redaktion DAS GEDICHT und DAS GEDICHT blog ganz herzlich dem Dichter Erich Jooß, der am 13. März 2016 seinen 70. Geburtstag feiert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert