»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Der arme Poet
Ein Mensch, beruflich Architekt,
schreibt Texte, die kaum einer checkt.
Er selbst bewundert sie frenetisch,
für andre sind sie fast hermetisch,
nach Sinn gefragt, zuckt er die Schulter.
Er kann sich’s leisten, denn weil Kult er
in jenen bessren Kreisen ist,
erklärt ein Doktor – Germanist –
die Tiefe seiner Poesie
auf jeder Lesung, dort und hie.
Beizeiten nervt ihn das Getue,
der Mensch hätt gern mal seine Ruhe.
Der Mensch ergänzt nun sein Bestreben
und sucht nach tiefrem Sinn – im Leben.
Drum schaut er sich im Publikum
nach reichen schönen Frauen um,
die ohnehin ja für ihn schwärmen,
um sich für eine zu erwärmen.
So kommt er neben Ruhm zu Geld,
weil er sie, sie ihn unterhält
und er sich fügt ganz ihrem Willen.
So kann er schreiben oder chillen
gerade so, wie es ihm schmeckt,
der Mensch, nun nicht mehr Architekt.
© Michael Hüttenberger, Stedesdorf / Darmstadt
+ Das Original
Mit »Der arme Poet« spielt Michael Hüttenberger unverkennbar direkt auf zwei prominente Vorlagen aus zwei Kunstrichtungen an: auf das Bild »Der arme Poet« von Carl Spitzweg (das hier übrigens keineswegs erstmals Eingang in Hüttenbergers poetisches Schaffen findet) sowie die bis heute populären »Ein Mensch …«-Gedichte von Eugen Roth. Diese bildet Hüttenberger formal (Paarreime, vierhebiger Jambus, bemerkenswert wenig Unterteilung in Strophen, schlichte Sprache mit doch der ein oder anderen Keckheit etc.) und inhaltlich (Struktur und Aufbau, Thema aus dem bürgerlichen Alltag, Art des Humors, erzählerische Perspektive) wunderbar nach. Ein spezifisches Roth-Gedicht als Vorlage gibt es hier nicht, es wird allgemein der »Ein Mensch …«-Kosmos nachgebildet und erweitert – der übrigens auch von Roth schon mit den genannten Berufsgruppen versehen war (etwa in »Für Architekten«, wo zudem auch gleich die inhaltliche Paarung Architekt & Frau auftritt, und in »Verhinderter Dichter«).
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Stedesdorf (Ostfriesland) und Darmstadt. Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013 und zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik). Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Zuletzt von ihm erschienen u. a.: »Bärendienstag. Eine weihnachtliche Bärengeschichte« (Kinderbuch mit Illustrationen von Wiebke Logemann; Brune-Mettcker-Verlag) und »Ostfriesische Perspektiven« (Lyrik und Prosa; Druckwerkstatt Kollektiv Verlag). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.