Türöffner für feinere Wahrnehmung: Andreas Altmanns Gedichtband »Von beiden Seiten der Tür«

Eingestreute Kritik von Hellmuth Opitz

Am Ende seiner Schulzeit, so berichtet Andreas Altmann in einer Art Vorwort zu seinem aktuellen Gedichtband, habe sein Leben durch einen Besuch im Atelier seines Kunsterziehungslehrers Karl Fischer womöglich eine andere Richtung genommen. Dieses Atelier, das der engagierte Lehrer mit seinem Freund, dem Maler und Graphiker Günter Hofmann teilte, sei ein Ort der Entdeckungen gewesen, mit Räumen »voller Bücher, Farben, Pinsel, Malereien, Zeichnungen, Figuren, Graphiken und Skulpturen«. An jeder Ecke gab es, so Altmann, etwas Neues zu bestaunen, etwa »Hölzer und Steine in besonderen Formen, skurrile Fundgegenstände, alte Metalle, antike Möbel und Holzengel«. Jedenfalls habe sich in diesem Räumen für ihn »eine Tür geöffnet« zu einer anderen Sichtweise, einem anderen Leben. Ob es genau diese Tür ist, die dem Gedichtband seinen Titel gab, sei einmal dahingestellt.

Unzweifelhaft ist aber die Inspiration, die von diesen Besuchen und den väterlichen Freunden ausging. Sie beeinflussten ihn sowohl poetisch als auch plastisch und führten zu den von Altmann so genannten »Fabelhäusern«. Es sind tatsächlich kleine Häuschen, zumeist aus Holz, die ein wenig wie Badehäuschen aussehen und mit schmiedeeiserenen Schnörkeln versehen sind oder Haushaltsgegenständen wie Gabeln. Sie verleihen den Häuschen etwas Lebendiges, Ausgelassenes, kurz: eine Persönlichkeit. In der Mitte dieses bemerkenswert schön aufgemachten Bandes sind Fotos von einigen dieser Fabelhäusern abgebildet. Ein befreundeter Künstler meinte zu diesen Kunstwerken, sie seien »Häuser der schlafenden Gedichte«, eine treffende Bezeichnung.

Innen und Außen nahtlos zusammengeführt

Überhaupt sind die Gedichte von Andreas Altmann selbst kleine Gebäude, die er für das Schillern des Lebens bewohnbar macht. Passend zum Titel beginnt der Band mit dem Gedicht »Tür ein»: »blaues licht hat sich durch zweige gefressen, / hängt an ihnen herunter. der himmel ist weiß. / eine stimme singt, weitet die hellen felder, / über die ich mit ausgebreiteten armen laufe und / dabei immer tiefer in den schnee sinke. am ende / der blicke wohnt ein haus.“ Allein für diesen letzten Vers hätte Andreas Altmann schon einen Lyrikpreis verdient, so ein Bild zu finden für etwas Weitentferntes, kaum noch Wahrnehmbares. Doch das Gedicht geht noch weiter: »fenster stehen / offen, es muss kalt in den zimmern sein. die tür / liegt auf der kehrseite der augen.« Da ist sie wieder, die titelgebende Tür, und noch einmal schaut man sinnierend auf den Titel »Von beiden Seiten der Tür«. Der Blick des Lesers wird in diesem Fall nach innen und außen gelenkt, also das, was eine Tür normalerweise trennt. Nur in diesen Gedichten nicht. Nahtlos geht Andreas Altmann zwischen äußeren und inneren Landschaften hin und her. Die Gedichte steigen oft mit einer simplen Naturbetrachtung ein, beispielhaft dafür das Gedicht »resümee«:

felder sind winterreif. bäume öffnen den blick.
gräber werden jetzt tiefer gelegt. die körper
berühren sich nicht mehr. bald werden worte
folgen.

Naturbetrachtung und subjektive Bilder

Diese knappen Sätze, die wenig mehr als Subjekt-Prädikat-Objekt enthalten, bilden das Setting, liefern eine äußere Szenerie. Aber auch hier ist schon der unmerkliche Übergang von einer relativ konventionellen Naturbetrachtung hin zu subjektiven Bildern innerer Wahrnehmung zu spüren. Die Unmerklichkeit dieses Vorgangs erzielt Andreas Altmann dadurch, dass er den aufs Notwendigste reduzierten Aussagestil seiner Sätze beibehält:

die zeit schüttet steine aus den uhren.
sie wird schwer, schleppt sich von tag zu tag.
ihr fehlen die augen. braun liegen die wiesen.
nur die birken tragen noch ihre grüne haut.
im stall hinter dem weiher lebt die vergangenheit.
ein schwanenpaar verharrt daneben, solange ich
sehen kann.

Inmitten dieses sachlichen Konstatierens taucht erstmals ein Ich auf. Und dann folgt der Scharniersatz des Gedichts, der den Perspektivwechsel einleitet: »jeden tag höre ich die nachrichten im radio, / jede stunde.« Von der Betrachtung wechselt die Perspektive zum Betrachter, aber das nicht abrupt, sondern allmählich. Und nach wie vor durchziehen knappe Naturaufzählungen das Gedicht: »es gibt viele pilze in diesem herbst, / fast zu viele.« Dann aber landen wir endgültig beim lyrischen Ich, das in den folgenden Versen ein illusionsloses Fazit zieht:

mit den jahren gehe ich langsamer ein.
manchmal träume ich, dass ich wach bin. dann
baue ich häuser, die auf eisernen beinen stehen.
ich hab eine frau, eine tochter und bin großvater.
das ist alles. ach, mehr als die hälfte meines
lebens schreib ich gedichte, aber was heißt das schon.

Verblüffend: nach den nüchtern-sachlich erwähnten Naturbeschreibungen plötzlich dieses ungeschützt autobiographische Resümee, das nicht nur den Familienstatus einbezieht, sondern auch das Künstlerleben von Andreas Altmann selbst – einschließlich der handwerklichen Kunst des eingangs erwähnten Fabelhäuser-Bauens. Der Poesie widmet Altmann hier allenfalls ein fast achtloses Parlando im »Ach, da war doch noch was«-Stil. Dieses Apropos, das immerhin mit einer Hölderlin-Anspielung gewürzt ist (»Hälfte des Lebens«), kommt mit selbstironischem Spott daher. Das lyrische Ich nimmt mit lakonischer Haltung (»aber was heißt das schon«) zur Kenntnis, dass Poesie im Sinne einer nutzenorientierten Gesellschaft und einer auf Informationstransfer getrimmten Sprache heute eher zu den überflüssigsten aller Künste gehört, zumal die KI-Chatbots der neueren Generation auf Knopfdruck zumindest eine niedrigschwellige »Dichtkunst« liefern können, die gängiger Mittelklasse-Poesie nahezu ebenbürtig ist. Doch dieses lyrische Ich jammert eben nicht, es braucht auch keine metaphorische Kulissenschiebung der Klage, es konstatiert, es zieht ein Resümee von stoischer Gelassenheit.

Jedes Gedicht eine faszinierende Falle

Viele Gedichte tragen das »haus« im Titel: »elternhaus«, »das kalte haus«, »mutterhaus«, »vogelhaus« etc. Im Grunde sind auch sie Fabelhäuser, nur dass sie aus Worten gebaut sind. Gemeinsam ist ihnen die sorgfältige Bauweise, die präzise Verschränkung und Betrachtung innerer und äußerer Landschaften. Am Schluss des Gedichts »elternhaus« heißt es: »mutter und vater / sind tot. sie haben den garten nicht gesehen, in dem ich / neben dem kleinen feuer sitze und jeden bäume / verbrenne, die nicht in den himmel gewachsen sind.« Ob Natur, familiäre Erinnerungen, Philosophie: Andreas Altmann macht aus seinem Herzen oft genug eine poetische Mördergrube. Er legt Zweige aus scheinbar konventionellen Sätzen darüber. Der arglose Leser tritt darauf und stürzt hinein. Jedes Gedicht eine faszinierende Falle. Bemerkenswert. Lesenswert.



Andreas Altmann
Von beiden Seiten der Tür

Poetenladen
Hardcover, 104 S.
19,80 €
ISBN 978-3-948305-17-8


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert