Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 23: Kritik

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Kritik

1. Was Kritik nicht ist und warum

Seit normative Ästhetiken bedeutungslos sind, erweist die Kritik der Kunstwerke sich oft genug als unverbindliche Meinungsäußerung, die – hinreichend vehement vorgetragen – trotzdem zu HITZIGEN Disputen in den Feuilletons führen kann. Deren Kenntnisnahme hat durchaus Unterhaltungswert, kann aber genauso gut unterbleiben. Verbindlichere Äußerungen zu Kunstwerken scheinen nicht möglich. Möglich scheinen vielmehr nur Ge- oder Missfallensbekundungen, die nichts über das Werk, aber viel über die bekundende Person sagen. Das Sprechen über Kunst scheint wie das Reden darüber, ob Vollmilch zu bevorzugen sei oder Zartbitter: geschmäcklerisch, bescheidwisserisch und müßig. Trotzdem werden Kunstwerke unverdrossen beurteilt.

„Alle Dichter schreiben schlechte Gedichte. Die guten Poeten unterscheiden sich von den schlechten nur dadurch, dass sie bisweilen auch gute Gedichte verfassen“, schreibt der größte aller deutschen Großkritiker. Dieses Statement ist pointiert und bestechend, also von trefflichem Witz und korrumpierend – denn das heißt bestechend ja in erster Linie – in der Umarmung des Publikums. Der Appell an die Schadenfreude zieht immer, weil sie das Denken verzichtbar macht: Alle schreiben schlecht, hö hö hö. Aber es gibt Ausnahmen, und da wissen wir mächtig Bescheid, hö hö hö. Dem Großkritiker geht es hier gar nicht um die Auseinandersetzung um Verfehltes, Missglücktes, sondern um die positive Setzung des Guten, Schönen und Wahren. Er ist der Gesetzgeber nach den Maßgaben klassischer Ästhetik. Da es in der Kunst keine Gewaltenteilung gibt, ist der Großkritiker nicht nur Gesetzgeber, sondern auch Geschmackspolizei und Richter in einem. Der autoritäre Charakter dankt es ihm, da kann er sich anschließen, vor allem, wenn seinem Verstand mit einem schnellen Witz geschmeichelt wird. Nicht denken und trotzdem den Verstand benutzen, das ist die Quadratur des Kreises!

Dabei hat Kritik überhaupt nichts zu setzen, sie muss negativ sein. Kritik stellt Fragloses infrage, nicht zuletzt und grundsätzlich sich selbst. Sie ist das Gegenteil der Abkanzelung, des Machtworts, der Besserwisserei ex cathedra. IDEOLOGISCHE Dooffinder:innen sind keine Kritiker:innen. Hegel nennt das die „Arbeit des Begriffs“. Nur diese kann „die Allgemeinheit des Wissens hervorbringen, welche weder die gemeine Unbestimmtheit und Dürftigkeit des gemeinen Menschenverstandes, […], noch die ungemeine Allgemeinheit der durch Trägheit und Eigendünkel von Genie sich verderbenden Anlage der Vernunft […]“ ist. Diese Arbeit besteht darin, den Gegenstand der Untersuchung auf formale wie inhaltliche Kohärenz zu überprüfen und zugleich das untersuchende Subjekt darauf, ob es dem Gegenstand gerecht wird. Hegel setzt dies gleich mit Wissenschaft.

2. Beispiel

Der berühmte Anfangsvers von Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“, „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ (1911), kann anhand der antibürgerlichen Haltung und des Ominösen der wegfliegenden Hüte als exemplarischer Vers des Expressionismus identifiziert werden. Aber nur, weil derartige Motive auch an anderer Stelle auftreten. Das radikal Besondere, das ein Kunstwerk ja überhaupt erst ausmacht, ist so nicht erfassbar. Doch die „Arbeit des Begriffs“ geht über die bloße Identifizierung ihres Gegenstandes hinaus, denn die „Allgemeinheit des Wissens“ ist mehr als bloße Schubladisierung. Die „Allgemeinheit des Wissens“ entsteht erst mit der systematischen und vollständigen Infragestellung des Gegenstandes, der seinerseits die Infragestellung infrage stellt. Dass der Kopf des Bürgers „spitz“ ist, ist als groteskes Bild zwar auch ein Merkmal des Expressionismus, aber das wäre nur eine formale Bestimmung. Die Überprüfung des Inhalts „spitz“ ergibt mehr. Hilfreicher als Sekundärliteratur sind oft Wörterbücher und Enzyklopädien. Und tatsächlich finden sich zum Stichwort „Spitzkopf“ und „spitzköpfig“ Einträge im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1838 – 1961), Bd. 16, Sp. 2639 89: Ein Spitzkopf ist demnach u.a. eine „[…] arglistige, spitzfindige person […], spitzfindiger mensch […], [ein] kluger, überkluger, verschlagener, schlaukopf, […] der feine und listige anlagen machen kann. […]“, und „[…] die spitzköpfichten sind geneigt zu rasender unsinnigkeit. […]“. Damit ist der „Bürger“ in van Hoddis’ Gedicht charakterisiert als jemand mit dem Lebenszweck, andere über den Tisch zu ziehen, ein zwielichtiger Geschäftemacher, stets auf dem Quivive. Dieser seit dem späten 19. Jahrhundert sich entwickelnde Typus des Bourgeois hat vergessen, dass er auch Citoyen sein muss, um Bestand zu haben. Mustergültig haben ihn die Gebrüder Mann beschrieben. Bei Heinrich Mann ist es Diederich Heßling, bei Thomas Mann Bendix Grünlich.

Wie seine beiden Zeitgenossen entwirft Jakob van Hoddis das Bild einer Welt der verschlagenen Schlauköpfe in rasender Unsinnigkeit:

 

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

 

Das donnernde Getöse der Naturgewalten bestimmt das Bild und ist bei näherem Hinsehen zugleich aber läppisch und bildet bloß die Kulisse einer an sich selbst irre gewordene Bourgeoisie: Ein Windstoß reißt Hüte von Köpfen, Sturm heult, anderswo droht eine Springflut, Erkältungskrankheiten nehmen zu. Sowas passiert jeden Herbst und hat so gar nichts von „Weltende“. Die wirklich furchtbaren Ereignisse sind gesellschaftlichen Ursprungs: tödliche Arbeitsunfälle von Menschen, die zu Sachen geworden sind, die Fluten, die vermeintlich sichere Dämme bedrohen, sind (ähnlich dem „vollen Boot“) eine Standardmetapher für das Unbehagen des verängstigten Biedermannes nebst Gattin in unübersichtlichen Zeiten, Maschinen geraten außer Kontrolle und richten schwere Schäden an. Und doch ist dies keine Tragödie, die immerhin eine Katharsis ermöglichen würde, sondern ein mutwilliges, kindisches Spiel („gehn entzwei“, „hupfen“). Die Tragödie setzt ein heroisches Handeln in einem verhängnisvollen Dilemma voraus. Hier ist etwas einer geläufigen Phrase zufolge einfach nur „dumm gelaufen“. Die Überschrift des Gedichts könnte auch „Oooops!“ lauten.

Was Kritik kann

Dies als Beispiel für die „Arbeit des Begriffs“ als kritische Tätigkeit: Dem Gesagten durch Infragestellung auf der Spur bleiben, um zur „Allgemeinheit des Wissens“, zum Gegenteil von Mutmaßung, Meinung und Vorurteil zu gelangen. Die so gewonnene „Allgemeinheit des Wissens“ hat aber nur so lange Bestand, wie sie ihrerseits der kritischen Überprüfung, der negierenden „Arbeit des Begriffs“ standhält.

Wenn ich behaupte, dass die alte Bedeutung von Spitzkopf in das Gedicht eingeflossen ist wie auch die ideologische Metaphorik von Flut und Damm und dass „Oooops!“ ein Synonym für „Weltende“ sein könnte, muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich da nicht etwas von mir hineinprojiziere, was nicht zum Gedicht gehört. Die Antwort wäre „ja“, wenn die Frage nicht falsch gestellt wäre.

Denn es geht bei Gedichten nur zum geringen Teil darum, was die eine Seite hineinlegen und was die andere hineinlesen will, wie also Subjekte ihre Sprache (parole) einsetzen. Entscheidend ist vielmehr, welche Möglichkeiten die Sprache (langue) bereithält, denn Sprache (langue) enthält grundsätzlich mehr Möglichkeiten als ihre individuelle Anwendung (parole) jemals realisieren kann. Kluge Dichter:innen kalkulieren das ein. Deshalb die oft unendlichen Umarbeitungen, die aber niemals die Möglichkeit des Scheiterns ausschließen können. Bei aller Präzision der Arbeit gelingt ein Gedicht letztlich nur auf gut Glück. Die Sprache (als langue) kann sich selbst (als parole) immer wieder ein Schnippchen schlagen. (Dass in der Lyrik langue und parole auch spezifische Organisationsformen wie Rhetorik, Symbolik, Metrum, Rhythmus und Klang umfassen, sei hier nur angemerkt, nicht weiter ausgeführt.) Kluge Interpret:innen müssen diese ebenso einkalkulieren, ihnen droht aus denselben Gründen dasselbe Scheitern.

All dies macht die „Arbeit des Begriffs“ an Gedichten so knifflig: Gedichte folgen zwar auch allgemeinen Gesetzen, sind also auch sprach- und literaturwissenschaftlich zu begreifen. Dieses Vorgehen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Denn es wird untersucht, wie die einzelnen Werke sich zu allgemeinen Kategorien verhalten, allerdings um den Preis, dass das Einzelne seine Autonomie verliert und zum Exemplar wird. Die „Arbeit des Begriffs“ an Gegenständen, die hauptsächlich dem freien, spontanen Willen entspringen, also Kunstwerken, erfordert über das Notwendige hinaus einen ebenso freien und spontanen Willen wie bei ihrer Herstellung und erzeugt so eine paradoxe Wechselwirkung: Einerseits bedarf es scharf unterschiedener Sprach- und Erfahrungshorizonte, andererseits muss eine emotionale Brücke zwischen beiden Seiten bestehen. Derartige Kritik war wahrscheinlich in dem eingangs zitierten Satz des größten aller deutschen Großkritiker gemeint, wenn er sagt, dass gute Gedichte die Ausnahme sind und sie von den schlechten zu unterscheiden nicht einmal den Autor:innen immer gegeben ist. Gesagt hat er allerdings in erster Linie, dass er es ist, der Noten verteilt und die Zeugnisse schreibt.

Dennoch hat er auf den Punkt gebracht, worum es bei allem Dichten und aller Kritik geht: Es gibt einen Unterschied zwischen guten und schlechten Gedichten, der aber umso schwerer begrifflich zu fassen ist, je plausibler er der Intuition erscheint. Die Bemühungen um dieses Begreifen, eine sehr spezifische, über bloße Wissenschaftlichkeit hinausgehende „Arbeit des Begriffs“, müssen zwei Monologe in einen Dialog überführen. Dies ist möglich, weil jedes Sprechen mit und über sich selbst immer auch schon ein Sprechen mit anderen und über anderes ist.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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