Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.
W.H. Auden, SPAIN, Faber & Faber, London 1937
Seit mittlerweile 35 Jahren halte ich mich mehr oder weniger regelmäßig mindestens einmal im Jahr in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut auf und genieße natürlich die Möglichkeiten, die die Bibliotheken der Yale-Universität einem Bücher- und vor allem Lyriknarren zu bieten haben.
Unvergessen meine Intensivbegegnung mit den handschriftlichen Aufzeichnungen des dem italienischen Faschismus zugeneigten amerikanischen Dichters Ezra Pound. Zu Papier gebracht als er gegen Ende des 2.Weltkrieges 1945 in einer Art Käfig bei Pisa vom US-Militär gefangen gehalten wurde und seiner transatlantischen Auslieferung entgegensehen musste. Als einer, der des Hochverrats beschuldigt wurde und in seinem Heimatland durchaus mit einem Todesurteil zu rechnen hatte, dann aber, zu seinem Glück, für über ein Jahrzehnt im Irrenhaus landete, bevor er später unbehelligt seinen
Lebensabend in Venedig verbringen durfte. Unglaublich, dass ich in der Handschriftenabteilung der Beinecke-Library sämtliche Cantos, die er in seinem Käfig und der anschließenden weiteren Einzelhaft verfasst hatte, im Original einsehen durfte, wie auch seine Korrespondenz aus der Psychiatrie des Saint Elizabeth’s Hospital zu Washington, unter die sich – unglaublich aber wahr – sogar ein Brillenputztuch des Poeten eingeschlichen hatte. Ich bin wahnsinnig gern in New Haven auf dem Yale-Campus und in seiner Nachbarschaft.
Traurig stimmt mich allerdings, wie sich hier auf dem Terrain eines intellektuellen Epizentrums in dreieinhalb Jahrzehnten die Buchladen- und vor allem die Buchantiquariatsszene entwickelt haben. Um es kurz zu machen: Sie hat sich ungesund geschrumpft, regalkilometerweise. Es war schon fast so etwas wie ein letztes Röcheln zu vernehmen. Unfassbar.
Klar, dass ich schlimmste Befürchtungen hegte, als ich nun, viel zu lange durch die Pandemie und andere Umstände an meinen alljährlichen Yale-Erkundungen gehindert, erstmals wieder auf dem geliebten Gelände unterwegs sein konnte. Der alte Atticus-Buchladen mit seiner feinen, auch lyrikhaltigen Kinderbuchabteilung hat überlebt, vermutlich aber hauptsächlich wegen seines raumgreifenden Bistrocafébetriebs. Auch im Secondhandbuchladen Booktraders brummt der Cafébetrieb, während in der eigentlich riesengroßen Filiale der Buchladenkette Barnes & Noble das einst hochfrequentierte Café geschlossen worden ist und man das Angebot an Druckerzeugnissen deutlich reduziert hat zugunsten geradezu unüberschaubarer Massen an Merchandisingartikeln und Klamotten mit dem Aufdruck Yale. Der kleine, dem Yale Center for British Art angegliederte Laden für Kunstbücher ist gleich komplett verschwunden.
Doch es gibt einen Lichtblick. Ein Fünkchen Hoffnung. Ach was, einen veritablen Leuchtturm! In Gestalt des erstaunlich preiswerten Buchantiquariats Grey Matter Books, was ich mir mal mit Bücher für die grauen Zellen zu übersetzen erlaube. In den angestammten Räumlichkeiten eines (was meinen Geschmack angeht) immer entsetzlich verstaubt und elitär anmutenden Fachgeschäfts für den wohlgekleideten Akademiker ächzen nunmehr die Regale und Schränke unter der vielversprechenden Last erlesener Druckwerke.
Eine Sitzbank und der eine oder andere locker aufgestellte Lehnstuhl laden zum Testschmökern und kontemplativen Verweilen ein. Ex libris zeugen nicht selten davon, dass der stöbernde Leser es mit Beständen aus den Sammlungen von uns gegangener Hochschullehrer zu tun hat. Auch eine fremdsprachige Sektion ist vorhanden: auf Deutsch viel Rilke und Grass. Ein bisschen Benn, Strittmater, Celan et al. Not bad at all.
Aber die eigentliche Attraktion: die englischsprachige Poesieabteilung. In der ich auf wunderbare Weise fündig geworden bin. Ein unspektakuläres Heftchen mit rotem Umschlag habe ich erstanden für gerade mal fünf Dollar, was ja nun nach aktuellem Wechselkurs fünf Euro bedeuten würde. Die Veröffentlichung eines Autors, der damals bei Erscheinen der 12seitigen Broschüre, anno 1937, noch britischer Staatsbürger war, bevor er 1944 einen US-Pass sein eigen nannte, nachdem er zwischenzeitlich bekanntermaßen Erika Mann geehelicht hatte, um ihr den Weg ins Exil zu ebnen. Wystan Hugh Auden hatte sich nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs wie die meisten seiner intellektuellen Zeitgenossen in Großbritannien auf die Seite der Republikaner geschlagen, die sich gegen General Franco und seine nationalistischen Terrortruppen zur Wehr setzten – eben auch mit aktiver Unterstützung internationaler Brigaden.
Von Januar bis März 1937 weilte W.H. Auden vor Ort, in Valencia und Barcelona, wo er als Sanitätskraftwagenfahrer für kriegsverletzte Republikaner im Einsatz war. Sein long poem mit dem einfachen Titel SPAIN, bestehend aus 24 vier- bis sechszeiligen Strophen wurde schon im Mai desselben Jahres bei Faber & Faber in London gedruckt, als eine Art Solidaritätshymne auf das um seine Freiheit kämpfende Spanien. All the author’s royalties from the sale of this poem go to ‚Medical Aid for Spain‘ heisst es im vorderen Klappentext, der auch gleich über den Verkaufspreis von einem Schilling pro Heft informiert. Wieviel Geld am Ende an die linke Hilfsorganisation ausgezahlt werden konnte, ist nicht bekannt. Aber dass Auden schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seinen Glauben in den ehrenvollen Freiheitskampf der Iberer und ihrer internationalen Helfer verloren hatte, steht fest. Völlig entsetzt und desillusioniert war er aus dem Bürgerkrieg zurückgekehrt, als Augenzeuge stalinistischen Terrors in den eigenen Reihen und bis ins Mark erschüttert auch von den Grausamkeiten der für die gerechte Sache streitenden compañeros.
Obwohl Auden sich später von diesem und einigen anderen erklärtermaßen politischen Gedichten distanziert hat, halte ich SPAIN für eines seiner beeindruckendsten und kraftvollsten Gedichte, was übrigens auch George Orwell, selber Spanienkämpfer, so gesehen hat. Und vor dem Hintergrund des Überfalls der Putintruppen auf die Ukraine und des noch andauernden Kampfes um die Souveränität des Landes lohnt die Lektüre des Gedicht allemal. Eine Freude, dieses schmale Heftchen demnächst nach Rückkehr aus Amerika im heimischen Buchregal begrüßen zu dürfen.
© Michael Augustin, 2022
Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.