Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 13: Ermittlungen im Gedicht

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Ermittlungen im Gedicht

(Kurze Vorbemerkung vom 25. 2. 22, während der Schlussredaktion des Aufsatzes: Der Satz Entgegen den Beteuerungen vieler Künstler*innen ist Kunst gerade nicht lebensnotwendig, sondern Luxus – eher so etwas wie ein Fabergé-Ei oder ein Ring aus dem Kaugummiautomaten erfährt gerade aufs Bitterste seine Bestätigung. Mehr ist an dieser Stelle zur Lage nicht zu sagen.)

In der letzten Folge des Poesiepuzzles ging es ja vordergründig um die Problematik der Infinitive im Gedicht, also eine sehr spezielle Fragestellung. Umso größer die Freude, als bereits kurz nach Erscheinen ein ausführlicher Kommentar eintraf, der deutlich machte, dass es auch um Grundsätzlicheres geht, im Kern darum, wie zu lesen sei. Dieser ausführliche Kommentar ist ein Glücksfall: Er stammt von Georg Noé, einem guten Freund, mit dem ich mich schon seit Jahrzehnten austausche. In seinem Kommentar bezeichnet er sich als gedichtferner Vielleser. Damit bringt er eine reflektierte Außensicht ein, mit der in einer Special-Interest-Rubrik kaum zu rechnen ist, besonders wenn sie auch noch Das knifflige Poesiepuzzle heißt.
Der gedichtferne Vielleser verfolgt die Metamorphose von einem schlechten zu einem brauchbaren Gedicht aufmerksam und wendet dabei zwei Strategien an: Zum einen liest er mit dem Blick des Krimilesers, zum anderen mit dem skeptischen Blick des Kritikers. Denn er witterte schon als Schüler Betrug, wenn Lehrkräfte in die Lyrik so allerlei Spitzfindiges hineinlasen. Beide Methoden haben ihren Wert für Lesende wie für Schreibende.
Die kriminalistische Methode ist eine aufklärerische, wissenschaftsaffine, die herausfinden will, wie ein Ding funktioniert, und voraussetzt, dass am Ende nichts ungeklärt bleibt. Kriminalistische Ermittlungen bestehen darin, das vorgefundene Material unter die Lupe zu nehmen und in einem zweiten Schritt mit Erfahrungen abzugleichen. Wie es so schön bei der Polizei heißt: Wir ermitteln in alle Richtungen. (Aber wir ahnen schon, wo es lang geht, denn wir haben den Riecher.) Diese Ermittlungen in alle Richtungen fördern tatsächlich alles Mögliche zutage.
Die kritische Methode will wissen, ob Behauptetes standhält. Sie folgt der kierkegaardschen Regel De omnibus dubitandum est, an allem ist zu zweifeln, an Subjekt und Objekt, vor allem an der Macht des Faktischen, am Selbstverständlichen, dem allzu gern Hingenommenen, aber auch am Zweifel selbst. Sie filtert am Ende das heraus, was erklärbar und verstehbar ist. Allerdings stammt derartige Hermeneutik ja ursprünglich aus der Theologie, die ihrerseits davon lebt, über Gottes Willen Bescheid zu wissen. – Bei solcher Anmaßung ist sogar Zweifel am Verfahren selbst geboten.
Doch zurück zum verhandelten Gedicht:

Fund

Unterm Friedhofsgebüsch
Im muffigen Laub
Ein halber Oberschenkelknochen
Nicht Rind nicht Hund
Mehr so dazwischen

Hier ergeben sich in kriminalistischer Hinsicht für den gedichtfernen Vielleser Fragen, die logisch sind, aber die Ermittlungen nicht weiterbringen (z.B. Warum Herbst oder Winter? Wer ist dort zu dieser Jahreszeit? War der Knochen leicht zu sehen oder musste sich der/die Unbekannte bücken oder gar unter das Gebüsch kriechen? Grabschändung?) Wie bei der polizeilichen Ermittlung gerät auch hier alles Mögliche ins Visier.
Und auch hier locken Spuren ins Nichts. Aber aus einem völlig andern Grund: Im Unterschied zur offenen, unendlichen Wirklichkeit, in der Absicht, Willkür und Zufall unabsehbar ineinander greifen, ist ein Gedicht ein geschlossenes, artifizielles d.h. durchkonstruiertes Gebilde aus einer überschaubaren Anzahl gezielt gesetzter Wörter, die dem Zufall spielerisch Raum geben. Die Wörter produzieren zwar komplexe Wechselwirkungen im sprachlichen Prozess, doch bilden sie im Gegensatz zum Makrokosmos der Wirklichkeit nur einen Mikrokosmos. Die überschaubare Anzahl Wörter legt fest, was im Gedicht enthalten ist und was nicht: Die Assoziationen „Herbst“, „Winter“, „Fäulnis“ entspringen dem Bild vom muffigen Laub. Stünde da „braunes Laub“, wären die Assoziationen nicht dieselben, das Gedicht ein anderes. Darüber hinaus sind von den Assoziationen und Synonymen, die das Bedeutungsfeld eines Wortes ausmachen, diejenigen für ein Gedicht irrelevant, die im Mikrokosmos des Gedichts aus dem Kontext fallen, wie im vorliegenden Fall das Synonym „übellaunig“, das ja eigentlich auch zu muffig gehört. Nicht Rind nicht Hund / Mehr so dazwischen könnte im Makrokosmos der Wirklichkeit ebenso gut auf Schwein oder Reh passen, für die gibt es ebenso keine direkten Indizien wie für Mensch. Aber Schwein und Reh stehen außerhalb der möglichen Zusammenhänge in diesem überschaubaren Wortgebilde, denn zur Definition des Friedhofs gehört notwendig der Mensch, andernfalls müsste es „Tierfriedhof“ oder „Schindanger“ heißen.
Im Mikrokosmos des Gedichts gelten nicht dieselben Regeln wie im Makrokosmos der sozialen Interaktion. Was beim interaktiven, sozialen Sprechen verwerflich ist, kann im Gedicht zielführend sein. Die klangliche Verbindung von Nicht Rind nicht Hund (in der ja auch der Fund nachklingt) wäre im wirklichen Leben eine bedenkliche Manipulationstechnik: Allein durch Klangähnlichkeit wird ein Zusammenhang herbei halluziniert. Mit solchen klanglichen Analogisierungen arbeiten Demagogen. (Serbien muss sterbien! krakeelte der deutschvölkische Mob 1914.) Wenn kritische Kriminalist*innen und kriminalistische Kritiker*innen sich da empören, ist das plausibel. Die emotionale Mobilisierung durch die klanglichen (und rhythmischen) Mittel in der Lyrik bewirkt jedoch keine Halluzinationen alternativer Wirklichkeiten (z.B. eine Welt ohne Serbien, Israel, Geflüchtete). Vielmehr schaffen sie spielerische Verbindungen, sie sind Ausdruck von Witz, Esprit (vgl. auch Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 10: Das Lyrische und das Komische).
Dies spielerische Moment ist bei den Ermittlungen kein Störfaktor, sondern eine produktive Irritation, die sich den nichtkommunikativen Schichten des Gedichts nähert, d.h. den Bereichen, die keine kohärente Widerspiegelung kausaler Prozesse sind, wie wir sie in Krimis und wissenschaftlichen Diskursen suchen und finden, immer dem Ernst der Verhältnisse auf der Spur. Dagegen sind Gedichte so ernst nicht, selbst wenn viele Künstler*innen fest daran glauben. Ich nenne dies den heiligen Unernst der Kunst. Das ist zwar ironisch, trifft aber, weil das Sakrale und das Kasperletheater zwei Seiten derselben Sache und einander in tiefer Abneigung verbunden sind.
Dieser heilige Unernst erzeugt Spannung, weil durch ihn die Wörter und der gesamte Mikrokosmos, den sie bilden, der bloßen Information enthoben sind. Man muss sich seinen Weg suchen durch den Irrgarten der Assoziationen und Synonyme. Der Erfolg dieser Suche ist nicht garantiert. Diese Spannung überträgt sich auch auf die Ermittlungen des gedichtfernen Viellesers:
Spannung! Weitere Fragen. War der Knochen leicht zu sehen oder musste sich der/die Unbekannte bücken oder gar unter das Gebüsch kriechen? Grabschändung? Schlampige Beerdigung? Spannung! (Randfrage: Ist der Entdecker des Fundes Mediziner, Biologe oder Forensiker, oder warum kann er einen Knochen so schnell identifizieren?) Spannungssteigerung! Menschenknochen? Menschenknochen im Laub unterm Gebüsch auf dem Friedhof? Ich stoppe die in Gedanken purzelnden Assoziationen und lese weiter, um zu erfahren, was es ist. Erste Enttäuschung. Ich soll es nicht genau erfahren, es kommen keine weiteren Zeilen. Zwischen Rind und Hund könnte von der Größe her Mensch sein, überlege ich. Ich breche die Überlegung aber schnell ab, weil ich nicht wissen kann, wer mit welcher Absicht auf dem Friedhof ist und welche Bewandtnis es mit irgendeinem Knochen nicht im Grab, sondern außerhalb von Gräbern auf dem Friedhof hat. Völlige Enttäuschung!
Die in Gedanken purzelnden Assoziationen sind spontane Verklumpungen von Gefühlen und Gedanken, Phantasien, die spielerisch Zusammenhänge herstellen können, zu denen rationale Strategien nur mit Anstrengung fähig sind, wenn überhaupt. Sie können aber auch genauso gut Anlass zu banalstem Stuss sein, es kommt nicht immer gut aus. Sie sind nicht per se wertvoll, wie die Phantasie- und Kreativitätsfetischist*innen inbrünstig glauben, können es aber sein. Anders gesagt: Phantasie ist bei den Ermittlungen zum Gedicht (ebenso wie beim Schreiben) notwendig, aber nicht hinreichend. Was der gedichtferne Vielleser hier als sein Scheitern empfindet (Ich breche die Überlegung […] ab, weil ich nicht wissen kann […] Völlige Enttäuschung!), ist in Wirklichkeit die Erkenntnis, dass ein Gedicht nicht mehr hergibt als seine Wörter. Die weit verbreitete Annahme, dass im überschaubaren System eines Gedichts auch etwas zwischen den Zeilen stehen könnte, ist daher bloß Gedankenschlamperei. Es steht alles  in den Wörtern, ihre Verknüpfungen und Zusammenhänge über die Syntax hinaus sind eben kein heimtückisches Ding, das aus seinem unterirdischen Bau ans Licht gezerrt werden muss. In den Sprechakten der Realität ist das allerdings weitaus komplizierter: Da ist das Sprechen Moment einer komplexen sozialen Interaktion, in der auch gern vertuscht und verschleiert wird, während das Gedicht monologisch ist und nicht vertuscht und verschleiert, sondern codiert und chiffriert. – Ein weites Feld, auf dem es letztlich auch um Wahrheit, Lüge und Moral geht.
In der Tat vermitteln kunstvoll gesetzte Wörter, in denen alles steht, sich nicht nur über Semantik und Syntax, sondern – wie schon angedeutet – auch, indem sie Gefühle erzeugen. Aristoteles weist auf die Bedeutung von Mitleid und Furcht hin. Das einzige, was Kunst um ihrer selbst willen nicht darf, ist kalt lassen. Für alle, die sie kalt lässt, ist sie verloren. Entgegen den Beteuerungen vieler Künstler*innen ist Kunst daher gerade nicht lebensnotwendig, sondern Luxus. – eher so etwas wie ein Fabergé-Ei oder ein Ring aus dem Kaugummiautomaten. What you get is what you see: something awesome. Und wenn es dir nicht gefällt, verscheuerst du es bei Bares für Rares oder schmeißt es weg. Da ist der heilige Unernst wieder.
Wer hingegen etwas genau erfahren möchte, wer wissen will, was der Fall ist, recherchiere die realen Verhältnisse. In Gedichten kommen diese sogar vor, aber nur als Material und Mittel der Darstellung, nicht als Erkenntnisziel. Der kriminalistische und kritische Blick auf sie ist durchaus von Bedeutung, denn er offenbart Sichtweisen der realen Verhältnisse, aber er findet keine Erklärungen, selbst nicht in dezidiert politischer Lyrik.
Als Beispiel Georg Weerths berühmtes Hungerlied von 1845/46:

Verehrter Herr und König,
Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mußten wir darben,
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum laß am Samstag backen
Das Brot, fein säuberlich –
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

(Sämtliche Werke Band 1, Berlin 1956/57, S. 193-194.)

Weerth entwirft hier ein ebenso dramatisches wie repräsentativens Zeitgemälde: Die pauperisierte Bevölkerung leidet Hunger und droht der Obrigkeit, sie zu fressen. Der Sarkasmus der Anrede und die verzweifelt absurde Drohung am Schluss erzeugen Mitleid und Furcht, hier jedoch nicht, um diese Affekte zu mäßigen, sondern um Empörung zu schüren. Um nichts Geringeres geht es. Aber auch nicht um mehr. Jeder Ansatz einer Erklärung fehlt. Stattdessen eine Reihung inszenierter, märchenhafter Einzelbilder. Bilder erklären nicht, sie illustrieren und suggerieren, alles liegt auf der Hand. Solcher Evidenz wohnt immer auch etwas von Täuschung und Betrug inne. Dies ist der Grund für das Misstrauen, das viele gegen Literatur und Kunst hegen, weil in der Realität der Betrug mit Bildern gang und gäbe ist. Er beginnt bei gephotoshopten Frauenkörpern und endet noch lange nicht bei der Kriegsberichterstattung. Aber in der Kunst ist das anders. Selbst ein Trompe-l’œil ist kein Betrug.
Wer also genau erfahren will, um was es im Hungerlied geht, muss Quellenmaterial und Theorien hinzuziehen. Das ist schon deshalb legitim, weil durch ihren Zeichencharakter die Wörter schon von sich aus über sich selbst hinausweisen, damit auch über Illustration und Suggestion, sie sind bereits kontextualisiert, bevor sie verwendet werden. Über den Kontext ist es überdies auch möglich, ein gelungenes Gedicht von einem kunstvoll gedrechselten Kabinettstückchen, von literarischem Kunstgewerbe zu unterscheiden.
Der gedichtferne Vielleser lässt sich vom Nimbus der Lyrik nicht irritieren und zeigt der gedichtaffinen Leserschaft, dass kriminalistische Ermittlungen und eine kritische Haltung gerade wegen ihrer Nüchternheit Sinnvolleres über ein Gedicht herausfinden können als eine Gedichtaffinität, die oft genug von wenig mehr als Begeisterung getragen ist. Was dabei herauskommen kann, bezeichne ich im Extremfall als Fanmüll. Lieber erstmal gar nichts glauben, als ein einfühlendes Mitschwingen des Aufnehmenden zu zelebrieren, um einer unmittelbaren Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch gemüthafte Weltbegegnung entstehen (Gero von Wilpert), inne zu werden. Solch feinnerviger Hokuspokus, gepaart mit alchimistischer Geheimniskrämerei, hat Lyrik zum esoterischen Gefuchtel degradiert und sogar Teile der gedichtaffinen Leserschaft traumatisiert. Und Generationen von Schüler*innen sowieso.
Dennoch hat die kritische Kriminalistik des gedichtfernen Viellesers auch ihre Grenzen. Sowohl für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit als auch für ihre mediale Widerspiegelung gilt, dass Fälle lösbar sind. Auch wenn dies nicht die Praxis ist, so ist es doch ein regulatives Prinzip, eine denknotwendige Bedingung, die nicht erfüllt werden kann. Damit ist der Krimi (dessen wache Lektüre sich ja als Vorbild für die Gedichtlektüre empfiehlt) heutzutage das, was früher einmal die Lyrik in Verruf gebracht hat: Er ist Erbauungsliteratur, indem zunächst ritualisierte Turbulenzen inszeniert werden, deren Auflösung beweist, dass die Welt trotz allem in Ordnung ist. Und selbst, wenn die Ordnung nicht wiederhergestellt werden kann, hat das Gute wenigstens so weit die Oberhand gewonnen, dass immer noch ein kleiner moralischer Lustgewinn abfällt.
Da Lyrik für diese Zwecke kaum noch gebraucht wird, sucht sie sich Bereiche, die keine Ordnung mit Hilfe regulativer Prinzipien aufrechterhalten müssen. Z.B. die Möglichkeit, Ambivalenzen in der Schwebe zu halten: Nicht Rind nicht Hund / Mehr so dazwischen, bei Georg Weerth: das kannibalistische Fest am Tag des Herrn. Ambivalenz muss nicht Unentschiedenheit sein. Sie kann auch Eindeutigkeitsverweigerung sein angesichts einer Wirklichkeit, in der immer stärker binäre Zuordnungen und Identität gefordert sind.
Diese Eindeutigkeitsverweigerung, die dem Entweder-Oder eine Nase dreht, dieses Spiel mit dem Nichtidentischen zeigt, dass die Ordnung der Dinge aufhebbar ist. Dieses subversive Spiel erzeugt ein Unbehagen beim gedichtfernen Vielleser, das auf didaktische Traumatisierungen in der Vergangenheit schließen lässt:
Ich frage mich als gedichtferner Vielleser in Erinnerung an Schulzeiten und Germanistikstudium, ob es nur meine Unfähigkeit ist, das lyrische Ich in oder zwischen den Zeilen/Versen zu entdecken? Ob ich mal wieder die Metaphern, Symbole, Allegorien usw. nicht entdecke, die möglicherweise zuhauf in dem kurzen Gedicht stecken?
Ich ziehe eine verrostete Gehirnschublade auf und entdecke dort eine vage Andeutung über die besondere Qualität von Rätselhaftigkeit in Lyrik. Ich bin ratlos.
Metaphern, Symbole, Allegorien kann man in Gedichten verwenden, muss man aber gar nicht. In Fund sind keine. In Weerths Hungerlied gibt es welche (backen / Das Brot, fressen). Häufig allerdings dienen Metaphern, Symbole, Allegorien nur noch dazu, Schwächen des Textes zu verbergen. Verrätselungen können Teil des Spiels, aber auch nur Ausdruck von Wichtigtuerei sein. Bei historischen Gedichten ist das noch anders, doch das interessiert nur Literaturwissenschaftler*innen, für die Gegenwart sind die alten Gedichte nur von Belang, wenn sie wie aktuelle gelesen werden können.
Gedichtaffinität bekommt ihren Wert dort, wo Gedichtferne sich unter das Dach des regulativen Prinzips flüchtet. Ihre Sache sind die spinnwebfeinen Gespinste, die kleinen Zusammenhänge, das, was nicht im Verstehen und Erklären aufgeht. Man könnte es notdürftig als das Musikalische bezeichnen, das Bildhaftigkeit und Klang als Bedeutungsträger gleichrangig neben Lexik und Semantik stellt. Allerdings sind Bildhaftigkeit und Klang notwendige, aber nicht hinreichende Bedeutungsträger, während Lexik und Semantik notwendig und hinreichend sind. Klang, Rhythmus, Bildhaftigkeit sorgen dafür, dass ein Gedicht als Synthese seiner heterogenen Elemente funktioniert und sich nicht selbst zerlegt. Metaphorisch könnte man sie als Emulgatoren bezeichnen, die etwas Geschmeidiges herstellen, das man nicht an die Wand zu nageln versuchen sollte. Was bei gleich bleibender semantischer Konstruktion ohne sie los wäre, zeigt das Beispiel:

Entdeckung

Unterm Friedhofsgebüsch
Im muffigen Laub
Ein halber Oberschenkelknochen
Nicht Pferd nicht Ziege
Mehr so dazwischen

Hier fügt sich so einiges nicht zusammen. Im Gegensatz zur allen anderen „fiktionalen“ wie „nichtfiktionalen“ „Textsorten“, um diese Quatschterminolgie auch einmal anzuwenden, muss das Gedicht auf diskursive Elemente verzichten, allein schon aus Platzgründen. Hypotaxen oder logische Operatoren wie Konjunktionen sind heikel. Da bringen der Fund von Rind und Hund auf assoziative Weise das in einen Zusammenhang, was ohne diesen Klangeffekt bloß zusammenhanglos wäre. Auch Klang und Rhythmus erklären nicht, wie die Bilder illustrieren und suggerieren sie, alles liegt auf der Hand.
Zum guten Schluss:
Wenn Gedichte auf die hier beschriebene Weise gelesen werden  können, heißt das nicht, dass sie so gelesen werden  müssen. Ein gelungenes Gedicht verträgt jede Lesart, solange seine Wörter ernst genommen und nicht als Projektionsfläche für vorschnelles Bescheidwissen missbraucht werden.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Fehlgänge – Dreizehn Geschichten von der Rückseite des Möbiusbandes, Düsseldorf 2019, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Ein Kommentar

  1. Auch aus der Gedichtferne ist leicht zu erkennen: A. Raven legt hier eine großartige Verteidigung der Lyrik vor. Wissenschaft und Literatur (oder allgemein Kunst) sind keine Gegensätze, sondern komplementär, freilich nur – und auch das zeigt A. Raven – wenn sie inhaltlich nicht ins Banale und formal nicht in Effekthascherei abgleiten.

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