Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.
Die schöne Seele – im Tiefflug von Schiller über Hegel zu Rilke bzw. Loriot
Im 18. Jahrhundert entsteht im Großprojekt der bürgerlichen Selbstermächtigung die „schöne Seele“, in der sich
„das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“
(Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, Werke Bd. 5, München 1962, S. 468)
Damals waren die Träume vom Reich der Freiheit noch nicht geplatzt. Die Vorstellung einer Verschmelzung des kantischen Sittengesetzes, das eigentlich nur die saure Pflicht des Vernünftigseins gelten lassen darf, mit dem Bauchgefühl des autonomen Individuums, also die praktische Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit in sittlicher Anmut muss elektrisierend gewesen sein: Auf diese Weise endlich ganz bei sich ankommen zu können, ist der Triumph des bürgerlichen Selbstbewusstseins. Schiller errichtet der schönen Seele im „Wilhelm Tell“ ein denkwürdiges Monument: Der Naturbursche emanzipiert sich durch eine heroische Tat, in der Sittengesetz und Emotion zusammenfließen, zum freien Republikaner. Allerdings auf tragische Weise, denn Tell wird durch die Tötung Geßlers unschuldig schuldig. Dieser Mord suspendiert das Sittengesetz wie das sittliche Empfinden – ein unlösbarer, eben tragischer Widerspruch. In seiner Lyrik hingegen verklärt Schiller die utopischen Perspektiven der bürgerlichen Selbstermächtigung weit über das Politisch-Moralische hinaus:
[…]
Rettung von Tyrannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toten sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
Und die Hölle nicht mehr sein.
[…]
(Friedrich Schiller, aus: An die Freude, Sämtliche Werke Bd. 1, München, 1962, S.136)
Das Modalverb „sollen“, das zwischen „müssen“ und „dürfen“ einen dritten, autonomen Bereich markiert, eröffnet den berauscht singenden Freien, Gleichen und Brüderlichen (die Schwestern hat Schiller noch nicht im Blick) die Vision des Sieges über Tod und Hölle, den Triumph der schönen Seele, die buchstäblich weder Tod noch Teufel fürchtet.
Ist die schöne Seele in dieser frühen Phase noch über alle Widersprüchlichkeit hinweg getragen von der Euphorie des Aufbruchs, bewahrheitet sich bald immer mehr das Bonmot des jungen Karl Marx:
„Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
(Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Marx-Engels-Werke Bd. 8, S. 115)
Die Gründe, weshalb die tragische Emanzipation des natürlichen Menschen sich nur als Farce wiederholen kann, hat der von Marx zitierte Hegel schon sehr früh, 1806, entwickelt:
Dem moralischen Selbstbewusstsein, das so ganz bei sich ist, fehlt
„[…] die Kraft der Entäußerung, die Kraft, sich zum Dinge zu machen und das Sein zu ertragen. Es lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit […]; sein Tun ist das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert und, […], sich nur als verlorenes findet; – in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.“
„Die wirklichkeitslose schöne Seele, […], ist also, […], zur Verrücktheit zerrüttet und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht.“
(G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Ffm 1970, S. 483 f., 491)
Anders ausgedrückt: Die schöne Seele muss, um die von Schiller beschworene fragile Ausgewogenheit von Vernunfteinsicht und sinnlichem Affekt zu bewahren, ganz bei sich bleiben, darf gar nicht, wie in „Wilhelm Tell“ noch unterstellt, „aus sich heraus“ (Ernst Bloch). Der „ganze Charakter“ der schönen Seele verträgt keine Irritation durch andere, die ihm als seinesgleichen entgegentreten. Obwohl seine Sittlichkeit die Freiheit und Gleichheit der anderen gewährleisten möchte, verliert sich der „ganze Charakter“ in sich selbst. Die schöne Seele ist durch den Widerspruch zwischen Moralität und Selbstbezogenheit, die immer auch eine Selbstgefälligkeit ist, „zur Verrücktheit zerrüttet“, indem sie ihre „gute“ Innerlichkeit gegen „böse“ Alltäglichkeit abschottet und sich stattdessen mit dem Unendlichen kurzzuschließen sucht. Die schöne Seele verklärt den blauen Dunst des verschwimmenden Horizonts und schmachtet den Mond an, obwohl sie doch eigentlich eine autonome Sittlichkeit realisieren möchte. Doch sie kann ihren eigenen Anspruch auf Verbindlichkeit nicht einlösen. So wird ihr im Alltag, aus dem sie sich heraussehnt, gerade weil sie unentrinnbar in ihm steckt, die Sittlichkeit zu Anstand und guten Manieren, die Schönheit zum guten Geschmack, Freiheit zur Präpotenz. Schillers Programm der ästhetischen Briefe, durch Schönheit zur Freiheit zu gelangen (Zweiter Brief), wird damit zur wohlfeilen Maxime: durch guten Geschmack zur Distinktion. Die bürgerliche Utopie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird zu selbstgefälliger Biederkeit und offensiver Rechtschaffenheit. Dazu muss betont werden, dass die schöne Seele dies nicht verursacht – sie kann ja gar nichts verursachen –, sondern sie ist hier lediglich Katalysator. Was in „Wilhelm Tell“ noch tragisch ist, ist nunmehr als Farce inszenierbar.
Diese Inszenierung liefert Loriot in seinem Sketch „Flugessen“ (ab 8:37): In der drangvollen Enge eines vollbesetzten Flugzeugs versuchen der Herr Staatssekretär (Loriot) und die akkurat frisierte Dame (Evelyn Hamann) die Contenance zu bewahren, vor allem, als „ein Löntsch“ serviert wird, das wegen seiner knibbeligen Verpackungen in der Enge der Kabine eine gewaltige Sauerei verursacht. Trotz aller slapstickhaften Kleinkatastrophen bewahren die Herrschaften tatsächlich die Contenance, indem sie sich als schöne Seelen erweisen: Sie zelebrieren ihre Innerlichkeit, die sie von dem dritten Fluggast in derselben Reihe (Heinz Meier) unterscheidet, der zwar ebenfalls korrekt gekleidet ist und elaboriert spricht, aber völlig aufs Faktische fixiert ist. Der Herr Staatssekretär und die akkurat frisierte Dame kommen beim Smalltalk schnell zur Sache: Die Dame liest und liebt Rilke, der Herr Staatssekretär kennt sich aus und befindet, dass Rilke das Schönste ist, was jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde. So schön offenbar, dass die Sprachlogik getrost über Bord geworfen werden darf. Und dann rezitieren sie im Duett:
Die akkurat frisierte Dame:
„Und du erbst das Grün
vergangner Gärten und das stille Blau
zerfallner Himmel.
Tau aus tausend Tagen,
die vielen Sommer, die die Sonnen sagen,
und lauter Frühlinge mit Glanz und Klagen
wie viele Briefe einer jungen Frau.“
Der Herr Staatssekretär:
„Du erbst die Herbste, die wie Prunkgewänder
in der Erinnerung von Dichtern liegen,
und alle Winter, wie verwaiste Länder,
scheinen sich leise an dich anzuschmiegen.“
(Rainer Maria Rilke, aus: Das Stundenbuch – Das Buch von der Pilgerschaft, Die Gedichte, Ffm 1986, S. 260)
Im hingebungsvollen Aufsagen sind beide ganz bei sich, nicht aber beieinander, das erlaubt die schöne Seele nicht. Der Herr Staatssekretär weiß Bescheid und urteilt, die akkurat frisierte Dame raunt schwelgerisch, beide kommunizieren vor lauter Innerlichkeit, mangels „Kraft der Entäußerung“ aneinander vorbei. Genau deswegen aber geht der ganze Katastrophenslapstick durch sie hindurch wie ein Projektil durch Pudding: Sie nehmen ihn kaum wahr, selbst wenn dem Herrn Staatssekretär eine Scheibe Kochschinken im Gesicht klebt und der akkurat frisierten Dame die Coiffure verrutscht.
Ob Loriot Hegel gelesen hat, ist nicht auszumachen, auf jeden Fall aber ist er weit über bildungsbürgerliches Bescheidwissen hinaus vertraut mit der Lyrik, und er findet in Rilke den Hohepriester der Seelenschönheit. Die elf Verse, die hier aufgesagt werden, schließen das Intime („Du“ „ Briefe einer jungen Frau“, „anzuschmiegen“) kurz mit dem Großenganzen (zahllose „Frühlinge“, „Sommer“, „Herbste“ „Winter“), dem Erlesen-Moribunden („das Grün vergangner Gärten“, „das stille Blau zerfallner Himmel“, „Winter, wie verwaiste Länder“) und dem Kostbaren („Prunkgewänder“). Heraus kommt ein Schwall von Gleichnissen als Deko für gewisse, bzw. ungewisse Stunden, wenn die Seele in sich „verglimmt […] und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.“ Und wie immer, wenn hochentwickelte Sprachkunst sich an Vagem abarbeitet, ist auch unfreiwillige Komik nicht fern: „Du erbst die Herbste“. Diese Komik zu betonen, lässt Loriot die akkurat frisierte Dame auch aus der zehnten Duineser Elegie rezitieren: „Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los:“ (Rilke, S. 669) – Schwer nur wieder wirst du dies tonlose Los los, selbst wenn du alle Erbsen erbst.
Nun könnte es ja sein, dass all dies Schnee von gestern ist: Loriots Wiederholung der bürgerlichen Selbstermächtigungstragödie als Farce ist bald fünfzig Jahre alt, Rilkes Lyrik weit über 100, beide sind gesicherte Kulturgüter, das Interesse an ihnen ist bestenfalls nostalgisch. Nun hat aber das Bonmot des jungen Marx einen Haken: Die Tragödie hat durch Anfang, Mitte und Ende eine zeitliche Struktur, die Farce ist zeitlich völlig offen, sie kann im Nu vorüber sein, sie kann aber auch in endlosen Varianten fortdauern. Der Konflikt zwischen allgemeiner und familiärer Sittlichkeit zum Beispiel wird in Sophokles’ „Antigone“ für einen angenommenen Zeitraum von Sonnenauf- bis -untergang in fünf Akten entwickelt, danach ist die Welt nicht mehr dieselbe. Das Unabgegoltene wird bewältigt. In Matt Groenings „Simpsons“ zieht sich derselbe Konflikt ohne Anfang, ohne Ende und ohne Entwicklung über Jahrzehnte, ohne dass die Figuren älter werden. Die Farce kommt zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Welt (nämlich nach der Tragödie), findet dann aber kein Ende, wenn sie nicht willkürlich, mit durchschaubaren dramaturgischen Kniffen abgebrochen wird. Sie gleicht der ewigen Verdammnis. Die Farce der schönen Seele macht da keine Ausnahme, Loriots Inszenierung ist Teil einer kulturellen Endlosschleife, angetrieben durch den ungelösten Widerspruch zwischen Innerlichkeit und moralischem Anspruch.
Kunst, vor allem die Lyrik in all ihrer Subjektivität, ist Teil dieser kulturellen Endlosschleife, des Kulturbetriebs, in dem die schöne Seele immer wieder ihr Erscheinungsbild auf den neuesten Stand bringt. Ich begegne ihr immer wieder bei Lesungen und Konzerten, in Ausstellungen und Theaterfoyers, in Kuratorentexten und Feuilletons. Und manchmal so im Vorübergehen, wenn irgendwo mein Spiegelbild aufblitzt. Dies macht die Welt der Kultur trostlos, doch bringt sie immer wieder einzelne Werke, einzelne Gedichte hervor, die die trostlose Welt der Innerlichkeit hinter sich lassen.
© Achim Raven