rezensiert von David Westphal
»Das Skelett des Moments« ist die dritte eigenständige Veröffentlichung des jungen Autors Patrick Beck. Der 96 Seiten starke Band versammelt in elegant weißem Einband mit roter Schrift und einem Abdruck der Unterschrift des Autors Momentaufnahmen in Gedichtform. Der Titel »Das Skelett des Moments« lässt verschiedene Erwartungen zu. Man könnte beispielsweise an das uralte Vorhaben vieler Dichter denken, einen Text dermaßen zu verdichten, dass mit nur wenigen Worten sehr viel mehr zum Vorschein kommt, als auf Textebene realisiert ist. Das Vorhaben gipfelt in den Überlegungen der Hauptfigur Des Esseintes in Huysmans Roman »Gegen den Strich«, welche sich darum drehen, einen Roman so sehr zu verdichten, dass nur mehr ein einziger Satz übrigbleibt. Des Esseintes macht sich, als geborener Ästhetizist, bewusst, dass dieser Roman nur für wenige lesbar und verständlich sein würde. Werfen wir also einen tieferen Blick auf die Gedichte von Beck, um zu sehen, ob es dies ist, was sein Vorhaben kennzeichnet, ob die Gedichte diese selbst auferlegte Bürde aushalten mögen und ob Des Esseintes recht behält mit der Annahme, dass eine dichte Textstruktur nur für besonders feinfühlige Leser genussvoll bleiben kann.
Als erstes fällt die Gedichtstruktur auf: Es handelt sich ausnahmslos um Prosagedichte. Diese hybride Form aus prosaischer Textgestalt mit lyrischem Interesse ist verhältnismäßig ungewöhnlich, was vermutlich an der Schwierigkeit liegt, dass sie weder die zu meist auf den Inhalt bezogenen Erwartungen an einen Kurzprosatext, noch die eher formalen Erwartungen an ein Gedicht erfüllt. Das sagt natürlich weniger etwas über den Typus des Prosagedichtes, als über die Leserschaft aus. Das Ziel von Becks Gedichten ist es, den Leser durch verschiedene Momente zu führen. Das geschieht manchmal durch direkte Ansprache des Lesers mit »Du« oder »Wir« vom lyrischen Ich, manchmal aus der eigenen Sicht des lyrischen Ichs und manchmal durch eine einfühlende Personifikation von Objekten.
Viele dieser Momentaufnahmen erinnern stark an Fantasiereisen, bei welchen man von einem Vorleser erzählerisch an die Hand genommen und durch eine imaginative Welt geleitet wird. Inhaltlich werden in erster Linie ganz alltägliche Situationen angesprochen, wie ein Ritt auf dem Fahrrad, das Umlegen eines Schalters oder die Fahrt mit der U-Bahn: »Die blaue Linie fährt ein, bremst, hält. Du steigst ein, / der Zug beschleunigt.« Das Ich wirft einzelne Eigenbeobachtungen ein, wie die Betrachtung von Tag und Nacht. Zwischenzeitlich entführen uns die Gedichte auch an außergewöhnliche Orte, etwa auf stürmische See oder eine Raumstation: »Wir kehren zurück, koppeln unsere Fähre an die / verlassene Raumstation.« Das Spiel zwischen direkter Anrede des Lesers und dem gemeinschaftlichen »Wir« hat durchaus vereinnahmende Wirkung! Und plötzlich finden wir uns in der Position, Empathie für einen Felsen oder eine Eisscholle zu zeigen: »Sie atmet Frost, wächst. Sie nimmt / die Salze auf, verteilt sie in ihren Adern, legt sie ab.« Wenn man unbedingt möchte, kann man in den Gedichten über Gegenstände gewisse Allegorien finden, aber ihre Stärke liegt darin, eine Anleitung zur möglichen (oder unmöglichen) Gefühlswelt der Dinge zu geben.
Worin liegt aber nun die Skeletthaftigkeit der Gedichte? Ist man einige Seiten fortgeschritten, dann fällt auf, dass Adjektive stark vermieden werden. Die Momentaufnahmen werden gewissermaßen auf ihre Gegenständlichkeit reduziert, obgleich sie häufig neben starker Metaphorik stehen. Das hat Konsequenzen für den Leser: Die Metaphern werden weniger als Effekte wahrgenommen, wirken stellenweise aber auch fremdartig und die besagte Fantasiereiseartigkeit hängt in noch viel stärkerem Maße vom Leser ab, als es bei der therapeutischen Entspannungstechnik der Fall ist.
Das kann man sehr unterschiedlich bewerten. Der Leser kann es als Möglichkeit sehen, die Skelette nach eigenen Vorstellungen zu einem ganzen Organismus zu vervollständigen, was durchaus sehr gut funktioniert, wenn man sich auf die Gedichte einlässt. Allerdings könnte sich der ein oder andere Leser auch ausgesperrt fühlen, da er schlicht hilflos vor einem Skelett steht und kein Interesse an Anatomie hat. Patrick Becks Momentskelette sind für interessierte Leser ein Abenteuer und auch literaturhistorisch läuft Beck auf selten begangenen Wegen. Grundsätzlich aber muss der Leser selbst entscheiden, ob für ihn das Skelett des Moments in aller Dichte den Kern der Momente einfängt – und zwar am besten für jedes Gedicht einzeln.
Patrick Beck
»Das Skelett des Moments. Gedichte«
Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag, München 2015
Softcover, 96 S.
€ 11,50 (D)