Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. jeden Monats unterhalten sich im losen Wechsel GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und die Bloggerin Franziska Röchter mit Schriftstellern und Literaturvermittlern über ihre Arbeit und ihr Leben.
Liebe Nora, Sie sind – neben ganz vielem anderen – eine schweizerisch-deutsche Lyrikerin. Wie ist Ihr Verhältnis zur Schweiz, halten Sie sich oft dort auf?
Ich habe zwei Schweizer Verlage, die sich um meine Arbeiten kümmern. Also bin ich automatisch immer wieder dort. Eine Zeit lang war ich Kolumnistin beim Schweizer Monat. Auch gelte ich in der Schweiz durchaus als Schweizer Autorin. Das macht mich stolz. Im Ganzen bin ich so 5 – 10 mal im Jahr im Land.
Als einzige Schwester von sieben Halbbrüdern haben Sie sicher viel fürs Leben mitgenommen, was Ihnen möglicherweise als Schwester von sieben Schwestern verwehrt geblieben wäre. Was hat Sie in dieser Konstellation am meisten geprägt?
Die Sehnsucht nach geschwisterlicher Gemeinschaft. Ich war die Jüngste, alle waren aus dem Haus, als ich aufwuchs. Meine Brüder und ihre Frauen faszinieren mich. Ich habe z.T. Phantombeziehungen zu ihnen, denn kennengelernt habe ich nicht alle bisher.
Wie war es für Sie als Kind, Tochter des berühmten Eugen Gomringer zu sein?
Als Kind war es seltsam, von den Deutschlehrern gefragt zu werden, ob der “Mann im Lesebuch” noch lebe. Sonst war es mir nicht wirklich bewusst, dass er bekannt war. Er war viel vereist und hielt viele Vorträge. Alles war „Arbeit“ und wichtig waren Kunst und Autos und Hunde.
Wie sehr fühlten Sie sich persönlich betroffen von der auf mich sehr konstruiert wirkenden „Sexismus“-Debatte rund um das avenidas-Gedicht Ihres Vaters?
Persönlich betroffen von der Debatte selbst war ich kaum. Aber die Flut der Reaktionen danach hat die Leute ganz schön demaskiert. Viel Hass und Misogynie, die Einteilung in „gute“ und „untervögelte“ Frauen schlug mir in jeder zweiten der weit über 500 E-Mails zur Sache entgegen. Ich hab mich gequält gefühlt von der Annahme allzu vieler, dass die erwachsene Tochter des Dichters selbstverständlich auch seine Sekretärin sein muss.
Von Ihrer Mutter haben Sie zwei in Acrylglas verewigte Käfer bekommen, als Sie ungefähr zwei Jahre alt waren. Sie sagen, Käfer seien sowieso wichtig. Wie meinen Sie das?
Resilient sind sie. Schön und uneitel dazu. Evolutionsgewinner.
Man treffe Sie oft in Mexiko und im Kino, heißt es auf Ihrer Website. Welche cineastischen Genres interessieren Sie am meisten, welches waren die letzten 6 Filme, die Sie gesehen haben und was ist Ihnen davon am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben?
Das muss ich mal anpassen … Mexiko war intensiv bis 2016. Aber Kino stimmt noch.
„Astrid“, „Green Book“, „The Favourite“, „The Possession of Rachel Irgendwas“ [Red.: „The Possession of Hannah Grace“], „Glass“, „The Wife“. Außer Astrid hat mir keiner so richtig gefallen von den aufgezählten. Mir ist im Erzählen zu viel Political Correctness eingewebt. Das macht die Geschichten oberflächlich. Es zieht sich in Dramaturgie und Spiel. Ich liebe Horrorfilme. Und Sport- und Kriegsfilme und Kostümfilme üppiger Ausstattung muss ich mir ansehen.
In Ihrem Buch „Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren“ (Volant & Quist 2015) stellen Sie sich u. a. die Frage nach der Verbindung von Sprechen und Gesang, sprechen von sich formendem Klang und schwingender Semantik. Können sehr moderne, sehr verkopfte Gedichte diesen Klang, dieses Singen überhaupt entwickeln?
Ich finde: selten.
Sie werden als „Queen des Spoken Word“ bezeichnet – und Sie haben eine musikalische Ausbildung genossen. Hat Ihnen diese für Ihre Vortragskunst gute Dienste erwiesen? Wäre Musikerin und/oder Sängerin eine Berufsmöglichkeit für Sie gewesen?
Ich darf zum Glück alle Talente einsetzen und mich auf der Bühne immer etwas neu erfinden. Meine neue CD mit Philipp Scholz: Peng Peng Parker ist fast eine reine Gesangs-CD.
Wenn Sie nicht das geworden wären, was Sie jetzt sind (u.a. Lyrikerin, Direktorin, Bachmannpreisträgerin), wie könnte unter Umständen ein alternativer Lebensweg von Nora Gomringer ausgesehen haben?
Gerne hätt ich Medizin studiert oder wäre zum Fernsehen. Für beides war ich zu schüchtern und ein bisschen zu ehrgeizlos letztlich. Außerdem hatte ich nie eine Person wie mich im TV erlebt bis dato. Ich hätte nicht gewusst, wo und wie ansetzen. Auch Choreografin oder jetzt was in der Wirtschaft … es interessiert mich vieles, außerdem kann ich ganz gut Netzwerken und versuche, Ökonomie meiner Mittel zur Basis meiner Arbeit zu machen. Ich fühle mittlerweile eher, dass ich zwei Berufe hundertprozentig ausführe und lebe. Wenn ich als Künstlerin noch mehr schaffen könnte, wäre mir die Bildende Kunst über Jahre näher gerückt.
Finden Sie in Ihrem sehr ausgefüllten Leben noch Zeit für solche profanen Dinge wie selbst etwas kochen, einen Kuchen backen, für sportliche Aktivitäten?
Ja. Ich achte auch darauf und profan finde ich diese Dinge, nach denen man sich ja auch sehnt, selten. Ich koche gerne, rudere (täglich), laufe (zeitweise intensiv) und gehe aus. Da ich keinen Alkohol trinke (noch nie getrunken habe), ist das etwas seltsam manchmal.
In Ihrer kürzlich im Münchner Lyrikkabinett gehaltenen „Münchner Rede zur Poesie“ sprachen Sie über die Selbstinszenierung des Dichters in den Social Media. Gibt es auch Tage, an denen Sie selbst mal keine Lust verspüren, aber aus einer gewissen Verpflichtung ihren Fans gegenüber doch etwas posten?
Es ist nicht so sehr eine Verpflichtung gegenüber jemandem. Es ist Freiheit „herstellen“. Je größer die mediale Oberfläche, die man sich schafft, desto ehrlicher kann man dahinter verschwinden.
Können Sie sich ein Leben ohne Facebook, Instagram & Co noch gut vorstellen?
Ja. Aber ich mag nicht. Die Netzwerke amüsieren und informieren mich. Ich lerne von meinen „Freunden“ einiges. Außerdem hab ich ja Leute in vielen Ländern, in denen ich Zeit verbracht habe, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Und so halte ich Kontakt. Auch mit der Familie.
2015 sagten Sie in einem Interview mit Armin Kratzert, den politischen Anspruch hätten Sie nicht so in Ihrem Schreiben. In meiner Wahrnehmung sind Sie aber durch und durch ein Mensch mit großem Interesse für seine Umwelt. Welches aktuelle gesellschaftspolitische Thema beschäftigt Sie derzeit besonders?
In dem Band „Nachrichten aus der Luft“ war‘s nicht so politisch. Die Bücher danach schlagen andere Töne an. Das stimmt. Gleichberechtigung interessiert mich. Selbstbestimmung. Der Feminismus in seinen Facetten, der Glaube an Gott und den Menschen. Ich verzweifle an der offenen Präsenz der Rechten und spreche mich dagegen aus. Aber auch dabei gilt es, genau hinzusehen.
Welches gesellschaftspolitische Thema sollte eigentlich jeden Menschen interessieren – tut’s aber vielleicht aus unterschiedlichen Gründen nicht?
Massentierhaltung. Billig-Lohn-Industrie. Sklaverei. Zensur.
Welche besondere Persönlichkeit würden Sie gern einmal – falls noch nicht geschehen – persönlich treffen und kennenlernen?
Ich möchte gerne immer wieder Klaus Staeck begegnen. Ansonsten: der unkonventionelle Ideen-Produzent Flula, der sich gerade in Hollywood etabliert und gerne – und schon immer – Julia Roberts.
Für all jene, die Ihre „Monster Poems“ (Voland & Quist 2013) noch nicht gelesen haben: Wovor haben Sie am meisten Angst?
Das Überleben aller Lieben und das immer größer werdende Einsamkeitsgefühl. Nie mehr berührt zu werden mit Lust, während man selbst mit Lust den anderen berührt – das macht mich traurig. Und Traurigkeit macht ängstlich.
Wenn Sie zwei Wünsche frei hätten, welche könnten das sein?
Gesunde, langlebende Neffen und Nichten. Glückliche Patenkinder.
Was würden Sie gerne – wenn es sich zeitlich einrichten ließe – unbedingt einmal ausprobieren?
Einen Tanzkurs machte ich gerne. So offiziell. Mit Partner. Roller-Derby wär auch cool. Boxtraining, regelmäßig.
Gibt es irgendetwas, was Sie manchmal vielleicht in Ihrem Leben vermissen?
Natürlich.
Liebe Nora, ganz herzlichen Dank für dieses Interview.
Vita (Kurzversion)
Nora Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Sie schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte. Alle Mündlichkeit kommt bei ihr aus dem Schriftlichen und dem Erlauschten. Sie fördert im Auftrag des Freistaates Bayern Künstlerinnen und Künstler internationaler Herkunft. Dies tut sie im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia. Und mit Hingabe.
Auszeichnungen (Auswahl)
Aufenthaltsstipendium des Goethe Instituts in der Villa Kamogawa in Kyoto (drei Monate zusammen mit Philipp Scholz : „Jazz in Japan“): Herbst 2016
Ingeborg Bachmann-Preis 2015
Weilheimer Literaturpreis 2015
Europa-Medaille des Freistaates Bayern 2015
Aufenthaltsstipendium des Goethe Instituts Helsinki: Herbst 2014
Joachim-Ringelnatz-Preis 2012
Jakob Grimm Preis Deutsche Sprache 2011
u.a.
PENG PENG Parker / Audio-CD
Gomringer, Nora (Autor) / Scholz, Philipp
ISBN 9783863912215
Verlag Voland & Quist, 02/2019
18,00 EUR (Deutschland)
© Franziska Röchter für dasgedichtblog, März 2019
Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.
Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.
© Franziska Röchter, 12/2018
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