Die aktuellen Gedichtbände von Franziska Beyer-Lallauret und Lina Atfah

 

Fragil sein und beflügelt

Die aktuellen Gedichtbände von Franziska Beyer-Lallauret und Lina Atfah

von Hellmuth Opitz

Gibt es etwas Filigraneres und zugleich Fragileres als Schmetterlingsflügel? Diese fein bestäubten Gebilde, die bei jeder Berührung, bei jedem Tropfen Wasser unwiederbringlich zerstört werden können, sind so etwas wie ein natürliches Symbol für die Vergänglichkeit von Schönheit. Ist es Zufall oder synchrone Wahrnehmung? Gleich zwei aktuelle Gedichtbände führen jetzt den Schmetterlingsbezug im Titel, beide sind von Frauen, beide sind zweisprachig. Und damit nicht genug der Gemeinsamkeiten: In beiden Titeln werden Fragilität und Bedrohung in einem Atemzug thematisiert, Schönheit und Tod als zwei Seiten einer Medaille. „Falterfragmente“ heißt der Gedichtband von Franziska Beyer-Lallauret, „Grabtuch aus Schmetterlingen“ der Band von Lina Atfah. Übrigens: Schmetterlinge, darauf macht Jan Wagner in seinem Vorwort zu Lina Atfahs Band dankenswerterweise aufmerksam, sind der Inbegriff der Verwandlung, der Entwicklung, der Metamorphose. Von der Raupe zur Puppe zum bunt beflügelten Gaukler, Nektarsammler und Bestäuber von Blumen und anderen Pflanzen. Nehmen die Gedichte der beiden Autorinnen diesen Bedeutungshorizont auf, verwandeln sie sich im Angesicht der Lektüre? Wir werden sehen.

Wenden wir uns zunächst dem Band von Franziska Beyer-Lallauret zu. Es ist der zweite Gedichtband der im sächsischen Mittweida geborenen Dichterin, die mit ihrer Familie seit vielen Jahren im französischen Angers lebt, nahe der Loire. Der schön aufgemachte Hardcover-Band enthält 36 Gedichte in jeweils Deutsch und Französisch und besticht schon visuell durch die feinen Bleistift- und Tuschezeichnungen, die die Künstlerin Johanna Hansen farbenfroh auf Papier gebannt hat. Sie zeigen Figuren, Falter und Früchte in oft leuchtender Plakativität, denen aber in der Zartheit ihrer Ausführung schon das Fragile und Flüchtige mit eingegeben ist. Zugleich sind diese Bilder eine kongeniale, farbintensive Ergänzung zu Beyer-Lallaurets bildhaften Gedichten. Blättert man oberflächlich in den Band hinein, so glaubt man zunächst, Naturgedichte vor sich zu haben. Verse wie „Hängst mir Eisaquarelle in Haus / Winter im Hinterland / …“ oder Gedichtanfänge wie „Ehe der Frühling am Ende ist …“ und „Wir denken nicht ans Holundersafttrinken …“ versetzen die geneigte Leserschaft scheinbar in eine Gartenidylle, doch es lohnt sich genaueres Hinlesen. Nehmen wir einmal das Gedicht „Verhinderter Orpheus“. Orpheus – ist das nicht der Ursänger und Urdichter, auf den sich schon Rilke in seinen 55 Sonetten an Orpheus beruft? Dessen erstes Sonett beginnt zwar mit der etwas pathetisch anmutenden Naturanrufung: „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! / O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!“ Doch es geht nur vordergründig um Natur, eigentlich geht es um poetologische Selbstreflexion, um die Bedingungen des Dichtens, den Charakter der Kunst: „Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes“ heißt es im 3. Sonett. Besitzt die Dichtung also immer göttlichen Charakter, da der Dichter in direkter Nachfolge des Göttersohnes Orpheus steht? So mag es der Dichter Rilke sehen. Wie aber sieht es die Dichterin Beyer-Lallauret? In ihrem Gedicht „Verhinderter Orpheus“ sind die Bedingungen des Dichtens scheinbar profaner, nichtsdestoweniger aber existentiell: „Fallen Münzen ins Redeblech / Schlägts dreizehn Lire vom Tathausturm / Entgleis ich dir am Stimmenband.“ Schon an diesen Versen lässt sich bei der Poetin die Lust am Klang ablesen, ebenso bei den beiden ersten Versen der übernächsten Strophe: „Wenn es faucht aus Rätselgittern/ Furcht sich das Wasser fürchte ich mich…“ Aber einmal abgesehen von Klang und wortspielerischer Artistik, die Beyer-Lallauret als poetische Stilmittel souverän einsetzt, wie greift sie die Orpheus-Thematik in ihrem Gedicht auf, warum ist ihr „Orpheus“ verhindert? Die erste Strophe scheint Hinweise zu geben, Worte wie „Münze“ „Lire“, Redeblech“ holen die Berufung auf Orpheus auf eine nüchtern-reale Ebene herunter: die materiellen Bedingungen des Schreibens. Nicht der göttliche Funke liefert die Inspiration, sondern der schnöde Mammon. Fast ist man versucht, den alten Ablass-Spruch von Johann Tetzel auf die Poesie anzuwenden. „Erst wenn das Geld im Kasten klingt, die Dichterseele in den Himmel springt.“ Nichts wird Franziska Beyer-Lallauret ferner gelegen haben als eine solche Auslegung, aber sie setzt in Bezug auf Orpheus ganz andere, eher geerdete Akzente als Rilke. Selbst wenn sich ihre rauschhafte Bildsprache traditionellen Motiven wie z.B. dem vielzitierten Mohn zuwendet, gelingt es der Dichterin, individuelle Facetten zu gewinnen wie hier in dem Gedicht „Mahd“: „Mohn / Weht durchs Dorf / Lässt nachts die Kapseln / Platzen gehupft wie / Gesprungen der Mond /“. Überhaupt: der Mond! In diesem Gedicht hat er einen Sprung und auch sonst hat er durchgängig seine Auftritte in den Gedichten Franziska Beyer-Lallaurets. In seinem überaus erhellenden Nachwort macht Patrick Wilden darauf aufmerksam, dass in den deutschen Gedichten der Mond ab-, in den französischen Gedichten hingegen zunimmt. Denn die zweisprachigen Gedichte sind keineswegs reine Übersetzungen aus der jeweils anderen Sprache, sie betonen ihre eigenständige Ästhetik. Ist die Sprache in der deutschen Version des eben zitierten Gedichts „Mahd“ artistisch verdichtet durch Stilmittel wie Enjambement und expressive Metaphorik, so ist die französische Version „Fauchage“ geprägt von einer klaren, einfachen und konzisen Diktion.
Die schon erwähnte forcierte Bildsprache täuscht nicht darüber hinweg, welche gedankliche Tiefe die Gedichte von Franziska Beyer-Lallauret enthalten, welche stilistische Eleganz, aber auch kritische Wahrnehmung, Skepsis, selbstironisches Augenzwinkern und nicht zuletzt auch poetischen Wortwitz. Ein Gedichtband für alle, die Lust aufs Entdecken haben.

Sind es bei Franziska Beyer-Lallauret noch „Falterfragmente“, ein Flügel oder ein Fühler, die für das Filigrane ihrer Gedichte stehen, so ist bei der syrischen Lyrikern Lina Atfah gleich ein „Grabtuch aus Schmetterlingen“ – ein nicht minder eindrückliches Bild. Im gleichnamigen Gedicht, das diesen, ihren zweiten Gedichtband beschließt, heißt es in der letzten Strophe:
„Das Leben aber haucht dir sacht / unsterbliche Schönheit ein / zum Flug ins Licht. / Flügel umflattern dich / wie Staub aus Blau und Gold und Rosa, / wie schwebender Glanz und Glitzer, / Zartheit umhüllt dich, umkreist dich, / deine Flügel entfalten sich wieder, klappen auf und zu / und steigen grenzenlos ins Weite. /Deine geschlossenen Lider, Engel, / bedeckt ein Grabtuch / aus Schmetterlingen. //“ Jan Wagner macht in seinem lesenswerten Vorwort darauf aufmerksam, dass der Schmetterling „seit der Antike als Verkörperung der Seele gilt.“ Umso symbolhafter und stärker wirkt das Bild, wenn ein Grabtuch aus Schmetterlingen die geschlossenen Lider des Engels bedeckt. Prunkende Metaphorik und kraftvolle Bilder sind ja eine Signatur der arabischen Sprache. Selbst ein blutiger Diktator wie der irakische Despot Saddam Hussein rief einst anlässlich des 1. Irakkrieges 1991 aus, nun habe „die Mutter aller Schlachten“ begonnen. Selbst in einer Kriegserklärung kann also poetisches Pathos stecken. Lina Atfah, die aufgrund staatlicher Bedrohung 2014 ihre Heimatstadt Salamiyah in Syrien verlassen musste und nun mit ihrem Mann im „Pott“, genauer: in Wanne-Eikel lebt, hatte in ihrem ersten Band „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ (Pendragon-Verlag, 2019) noch weitgehend in der Tradition arabischer Poesie mit starken Bildern und Symmetrien sowie hoher Symbolik gestanden. Der Band enthält Gedichte, die sich oft auf traditionelle Poeten berufen und auf virtuose Weise lyrische Namedropping-Strickleitern in die Gegenwart knüpfen. Wie ist das in dem neuen Band? Ist Lina Atfah, wie es die Übersetzerin Brigitte Oleschinski im zweiten, ebenso informativen Vorwort fragt, „mittlerweile angekommen“?

Um es kurz zu sagen: Ja, die Dichterin Lina Atfah ist in Deutschland angekommen. Davon zeugt nicht nur die Themenauswahl, es lässt sich auch stilistisch festmachen. Zum Beispiel in dem Gedicht „Imru al-Qais vor dem Berghain“. Hier Imru al-Qais, einer der größten arabischen Dichter aus dem 6. Jahrhundert, dort die weltberühmte Berliner Kult-Disco. Das Gedicht beschreibt den Clash der Kulturen: „Imru al-Qais geht zur Straße zurück, / nimmt den Bus. / Er vermisst die Schönheit der Pferde: / Nur Blech auf Rädern, / kein Ansporn für die Poesie! /“ So geht es weiter. Lina Atfah erzielt aus dem Kontrast zwischen poetisiertem Orient und profaner Urbanität reizvolle lyrische Effekte. Die Gedichte „2020“ und „Einsamkeit“ beschreiben die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Befinden der Poetin. Augenfällig ist bei diesen Arbeiten der weitgehende Verzicht auf opulente metaphorische Kulissenschiebung zugunsten eines eher an der Alltagswahrnehmung orientierten realistischen Tons. Kann man deshalb sagen, dass die „deutschen“ Gedichte samt und sonders eher nüchtern und sachlich gehalten sind? Durchaus nicht. Das Gedicht „Letztes Lied eines Kanarienvogels“ ist in seinem Untertitel „Dem Ruhrpott auf der Flucht von seinen Zechen“ gewidmet und beschreibt in kraftvollen Bildern den Strukturwandel, der mit dem Ausstieg aus der Kohle im Ruhrgebiet einhergeht. „Heute entschuldigen wir uns / für die auf Raubbau gegründeten Städte“, heißt es in dem Gedicht, aber die Bedrohung bleibt, die Schächte, die Gruben, die Löcher unter unseren Häusern. Die Kanarienvögel, früher unter Tage die kleine Alarmanlage des Bergmannes, sind längst verstummt. Eindrucksvoll, das Szenario, das Lydia Atfah hier aufruft.

Fazit: Zwei Gedichtbände von hoher Artistik, die fragile Stoffe in filigrane Poesie überführen. Sie zeigen, dass aus Bedrohtsein ein Beflügeltsein erwachsen kann.

"Falterfragmente" von Franziska Beyer-Lallauret
Buchcover-Abbildung (Dr. Ziethen-Verlag)

 

 

 

 

 

Franziska Beyer-Lallauret
Falterfragmente
Dr. Ziethen-Verlag
88 S., 20 €

"Grabtuch aus Schmetterlingen" von Lina Atfah
Buchcover-Abbildung (Pendragon-Verlag)

 

 

 

 

Lina Atfah
Grabtuch aus Schmetterlingen
Pendragon-Verlag
168 S., 22 €

 

 

 

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