Eingestreute Kritik: Bungee-Jumping mit Sprache

 

Zwei Gedichtbände, die sich was trauen:
Kathrin Niemela : wenn ich asche bin, lerne ich kanji
Sünje Lewejohann: als ich noch ein tier war

„In meinem nächsten Leben“, sagt man gern, wenn ein Vorschlag, eine Idee, eine Vision die eigene Realität oder Vorstellungskraft übersteigt. Man verschiebt also etwas mit einem Augenzwinkern auf die Zeit nach dem eigenen Tod bzw. der hoffnungsfroh erwarteten Wiedergeburt. Die Passauer Lyrikerin Kathrin Niemela betitelt ihren Debütband mit einem solchen Wunsch, drückt es aber drastischer aus: „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“. Ein durchaus ehrgeiziges Ziel, wie Artur Becker in seinem kundigen Nachwort verdeutlicht. „Kanji, die japanische Schrift, ist für uns Europäer kompliziert: Ein gebildeter Japaner könne schon, so sagt man, bis zu 5.000 Kanji beherrschen, wobei ein Kanji allein bereits ein Wort bilden kann …“ Also ein komplexes Schriftbild, schwierig zu lernen, anspruchsvoll. Läuft nur ein Häkchen etwas anders, eine winzige Variation, hat der Kanji womöglich eine ganz andere Bedeutung. Bei Kathrin Niemela geht es aber gar nicht um Entzifferung, es geht auch nicht um Kanji, es geht um Inspiration. Allein, dass so ein faszinierendes Schriftbild den Wunsch in der Poetin weckt, in das Labyrinth dieses vielschichtigen Zeichensystems einzutauchen, zeigt, welche ungeheure Neugier, welcher Welthunger in den Gedichten von Kathrin Niemela steckt. Unterwegs sein, ist der Normalzustand bei ihr, ob tatsächlich auf Reisen zwischen Aufbruch und Ankunft oder im Kopf zwischen Geistes- oder Gefühlszuständen oder gar beim Klicken durchs Netz: Nichts entgeht diesem genauen Blick, der quasi im Vorbeigleiten seine Wahrnehmung schärft. Manchmal wird es fast zu eng in der Fülle der Eindrücke. In dem vierstrophigen Gedicht „Bad in Shibuya“ wimmelt es vor Marken und Moden, vor fragmentarischen Wahrnehmungen aus Bars und Supermärkten. Vordergründig geht es um einen Aufenthalt in einem Damendampfbad, das lyrische Ich gibt sich leicht löslich: „ich ziehe blank: / bade, bis ich mich nicht mehr riechen kann /“. Da möchte jemand aufgehen in der Fülle sinnlicher Eindrücke, da will jemand nur noch ein Partikel sein im stream of consciousness, dem (mit)reißenden Flow urbaner Details und tatsächlich kommt da was ins Fließen: „ich schneide mich am sein“ – so endet das Gedicht. Das Augenaufschlagen ist die erste Verletzung.

Das erste Kapitel des Bandes besteht aus 20 recht kurzen Gedichten, die keinen Titel tragen, nur fortlaufend nummeriert und unter der etwas dekadent klingenden Überschrift „die süße unterm marmeladenschimmel“ zusammengefasst sind. Das erste Gedicht schlägt sofort eine geradezu programmatische Schneise für die Poetin selbst: „auf dass sich etwas bahne / zwischen nichts und allem, / hochhaus und halmen, zwischen zustand und ort, / mein kleid hängt dort, doch / es gibt keinen schrank und / ich hab es nie getragen // nehm auf cirren platz und / schenk mir eine amsel ein, / trink den gesang – //der abend zieht blank: / du fällst aus dem gras / in die handlung //“. Kopfüber mitten in die Sprache, so kann man einen Gedichtband auch beginnen. Allein schon diese 20 Gedichte beglaubigen die sprachliche Virtuosität von Kathrin Niemela und sind mit ihrem Anspielungsreichtum ein wahrer Fundus für Poesie-Aficionados. Da werden letzte große Fragen mit zeitgemäßen Aplomb behandelt: „wenn sterne superspreaden / – wie das dunkel / grimassen macht – / lunar gefragt: / was ist ur? / was sache? //“, da findet Kathrin Niemela überzeugende Bilder für die Liebe: „schließ die augen und sieh mich an, / unsere linien im finstern, / mach ein polaroid von der liebe, / speichere das bild – / schnellentwicklungsverfahren //“. Hier arbeitet die Poetin sehr virtuos mit Paradoxien: „Augen schließen – ansehen“ oder „Bilder speichern – Schnellentwicklung.“ So gelingen sprachliche Schnappschüsse von der Liebe, die gerade in ihrer scheinbaren Flüchtigkeit mehr Tiefenschärfe besitzen als manche Gedichtbände voll amouröser Beschwörungen. Die Gedichte von Kathrin Niemela sind wunderbare poetische Konzentrate, die ein Gebäude aus wenigen Sätzen für das Schillern des Lebens bewohnbar machen.

Gerade mal knappe zwei Jahre ist es her, dass Sünje Lewejohann einen Gedichtband mit dem schönen Titel „die idiotische wucht deiner wimpern“ vorlegte – einen sehr erfolgreichen Band mit radikalen, rasanten, sinnlichen Liebesgedichten, die einen Ton anschlugen, den man so noch nicht gehört hatte. Und jetzt kommt schon ein neuer Band: „als ich noch ein Tier war“, heißt er und auch hier geht es um Sinnlichkeit. Aber nicht nur in Sachen offensiver Liebesgedichte, sondern auch im Hinblick auf den Titel um eine Art Rückbesinnung auf Instinkte und geschärfte Sinne, wie sie eben Tieren zugeschrieben werden. Im ersten Gedicht „Hybrid“ gibt es Passagen, die dafür Beleg sein könnten: „will noch einmal fühlen, was von dir blieb. / die zeichen auf meinem körper, / die spuren in meiner seele. / halb frau, halb bär. //“ Aber es geht hier nicht um Regression oder die Sehnsucht nach einer Existenz vor dem Anthropozän, wie sie in dem bekannten Gedicht „Gesänge“ von Gottfried Benn zum Ausdruck kommt: „O dass wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor.“ Nein, die Rückkehr in die Ursuppe ist bei Sünje Lewejohann nicht das Thema. Wenn schon „Ur“, dann geht es hier eher um Ursprünglichkeit, um Ur-Instinkte, um den „atem deiner lippen, / die sich zu wilden tieren wandeln /“, wie es in ihrem Gedicht „Ein Vogelschwarm, ein leuchtender Himmel“ heißt.

Natürlich geht es in diesen Gedichten vielfach um die Liebe, um Begehren, um Sex: „nein küss mich nicht, meine / zunge hat mittlerweile / den geschmack von / schießpulver /“ heißt es in dem Gedicht „Best Sex Ever“, in dem eine gewisse Müdigkeit an reiner Körperlichkeit zutage tritt. Es wird um Abstand gebeten, um ein kurzes Innehalten in den geschlechtlichen Kämpfen und Kriegen der Liebe. In denen sind ja bekanntlich alle Mittel erlaubt: Da gleiten feuchte Zungen zu Schenkeln, da wird ineinander verknotet, da werden Orgasmen vorgetäuscht – und was es an Manövern, Finten und Übergriffigkeiten noch so gibt. Apropos Waffen der Liebe: Bedrohung und Gewalt sind immer mit im Spiel: „ein skorpion in deiner brust. eine natter in / meinem hals.“ Auch hier tauchen wieder Tierbilder auf, ebenso wie in der Kapitelüberschrift „krallen und zähne und pelz“. Man bewegt sich durch die Gedichte von Sünje Lewejohann wie durch einen Dschungel, immer ist da das Gefühl, da lauern unberechenbare Bilder, da springt einen hinter dem nächsten Zeilenumbruch etwas Gefährliches an. Es ist eine Unbedingtheit in diesen Gedichten, die bis zur Aufgabe des Ichs reicht. „reinige mich aus deinem körper“, so heißt ein Gedicht, ein anderes beginnt mit dem Vers: „dann lösch mich doch aus.“ Die Auslöschung als Wunsch, darin steckt eine Kompromisslosigkeit, die ein wenig an Oshimas Filmklassiker „Im Reich der Sinne“ erinnert. Aber ehe wir uns weiter zu versponnenen Vergleichen versteigen: „als ich ein tier war“ – das sind Liebesgedichte von einer wilden, ungebändigten Zärtlichkeit, fordernd, offensiv, dunkel und sexy zugleich. Schön wie ein Kuss mit rauen, aufgesprungenen Lippen, die nach Holunder schmecken.

Hellmuth Opitz

 

"wenn ich asche bin, lerne ich kanji" von Kathrin Niemela
Buchcover-Abbildung (Verlag parasitenpresse)

 

 

 

Kathrin Niemela
wenn ich asche bin, lerne ich kanji, Gedichte
parasitenpresse, 14 EUR

 

 

 

"als ich noch ein tier war" von Sünje Lewejohann
Buchcover-Abbildung (Verlag parasitenpresse)

 

 

 

 

Sünje Lewejohann
als ich ein tier war, Gedichte
parasitenpresse, 14 EUR

 

 

 

 

 

 

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