Mit dem Riesenlöffel rühr’n wir im Licht
Eine vielseitige neue Gedichtanthologie bei Hanser
Wir kennen uns bestens aus in der amerikanischen Kinder- und Jugendliteratur. Wir haben die wichtigsten Fantasy-Autoren präsent, wir feiern die sensationellen Erfolge eines John Green und wir gehen sogar an den meisten Newcomern der US-Jugendbuchszene nicht mehr vorbei. Wir wissen von der großen Kunst des Erzählens um des Erzählens willen, die im gesamten englischsprachigen Raum beherrscht wird. Nur ein kleiner Zipfel der Kinderliteratur ist bei uns weitgehend verlorenes Terrain: Das ist die amerikanische Kinderlyrik. Natürlich gibt es die Bücher von Shel Silverstein, aber schon der berühmte Dr. Seuss hat sich hierzulande nie richtig durchgesetzt. Und Namen wie Prelutsky oder Scieszka sind bei uns nahezu unbekannt. Dabei ist die Kinderlyrik im gesamten englischsprachigen Raum so reich und vielschichtig wie nirgendwo sonst auf der Welt. Sie wird in Schulen gepflegt, sie wird in Bibliotheken präsentiert und mit namhaften Preisen geehrt. Kinderlyrik führt in den USA (wie auch in anderen englischsprachigen Regionen) kein Schattendasein, sie ist nicht vom Aussterben bedroht.
2013 erschien bei Carlsen die äußerst ehrenwerte, von der Dichterin Susan Kreller zusammengestellte Sammlung englischsprachiger (nicht nur amerikanischer) Gedichte „Der beste Tag aller Zeiten. Weitgereiste Gedichte“, was an sich schon eine verlegerische Leistung war. Noch bewundernswerter aber: Alle Texte wurden in geradezu kongenialer Weise von Henning Ahrens und Claas Kazzer übersetzt (wunderbar vergleichbar durch die im Anhang abgedruckten Originalgedichte).
Nun erscheint eine neue Sammlung mit dem Titel „Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht“, diesmal ganz auf die USA beschränkt. Es ist gut, dass es diesen opulenten Sammelband hierzulande gibt, denn die Mehrheit der fast 90 Lyriker kennt man bedauerlicherweise bei uns nicht mal dem Namen nach. Somit ist das Buch eine wirkliche Entdeckungsreise, und das keineswegs nur für Kinder. Wie der Titel schon sagt, geht es um Gutenacht-Gedichte, wunderbar in warmem Braunton illustriert von dem in Amerika lebenden deutschen Zeichner und Illustrator Christoph Niemann. Man muss dem Hanser Verlag dankbar sein für den Mut, dieses Buch für den deutschen Markt zugänglich zu machen, denn anders als in Amerika tun wir uns im Land der Dichter und Denker schwer mit den Kindergedichten. Wir pflegen keine Kultur der Kinderlyrik. Kinderlyrik passt für viele offenbar nicht in die Zeit von iPads und Facebook-Postings. Und zum andern: Kinderlyrik ist schwer, oft fast unmöglich zu übersetzen. Sie lebt vom Sprachspiel, vom Rhythmus, gern auch vom Reim. Schon in der bereits erwähnten Anthologie von Susan Kreller zeigte sich, wie weit sich die besten Übertragungen gerade von Henning Ahrens manchmal vom Original entfernen mussten, um den Kern des Originals zu erfassen und zu transportieren, wobei hier Kern eben nicht nur den Inhalt meint, sondern auch und gerade die Melodie der Sprache. Wer Satz für Satz, Wort für Wort überträgt, schafft ein schwerfälliges Gebilde, das nichts mehr von der Schönheit, vom Sprachwitz, von der eingängigen Melodie des Originals rüberbringt.
Genauso ist es auch in der nun erschienenen Anthologie, herausgegeben von Kenn Nesbitt, dem langjährigen Children’s Poet Laureate, einer Art Hofdichter für Kinder. Ach, wenn es das doch auch bei uns gäbe.
Der Hanser Verlag hat die gut 140 Gedichte an verschiedene zeitgenössische Autoren von Durs Grünbein und Raoul Schrott bis zu Nora Bossong und Daniel Kehlmann sowie einige namhafte literarische Übersetzer (Sophie Seitz, Birgitt Kollmann) vergeben. Und wieder zeigt sich: Die gelungensten Übertragungen sind die, die nicht ehrfürchtig am Original kleben. Franz Hohler gelingt das – wen wundert’s? – perfekt. Michael Krüger, der die Kapitel einführenden Gedichte des Herausgebers Nesbitt übersetzt hat, findet einen adäquaten (wenn auch manchmal leicht altväterlichen) Ton. Und der Kabarettist und Musiker Willy Astor macht aus dem kurzen Gedicht „Friends on the Menu“ – „I’m gonna eat Henry. / I’m gonna eat Phil. / […] and Sue, no surprise. / Is it weird that I like to / name all my french fries?“ – etwas ganz anderes und erfindet sogar massenhaft Dinge und Namen dazu, was aber der Idee des U.S.-Originals von Alan Katz gerecht wird und nur noch mehr Schwung und Tempo gibt:
das erste war tommy
dann griff ich mir jim
als dritte die romy
darauf die nadine
[…]
dann bruno und kevin
so dachte ich: fein!
ich eß meralda
und gleich darauf hein
ich bin halt seltsam
denn jetzt ohne witz
als letzten der pommes
genoss ich den fritz!
© Alan Katz / Willy Astor
So viel Leichtigkeit, so viel hintergründige Komik ist selten in Übersetzungen, weil doch die deutsche Sprache meist mehr Länge braucht, was beim Übertragen den Rhythmus verlangsamt. Und wenn Astor dann noch raffiniert mit der Sprache spielt und den Pommes einmal kurz etwas Ketchup beigibt, dann ist das einfach nur wunderbar.
Es gibt viele solche Perlen in diesem schönen Buch, aber eben auch hin und wieder Texte, die in der Übersetzung komplizierter werden als das Original und dadurch nicht mehr als leichtfüßiger Singsang zur guten Nacht eingehen. In diesen Fällen wünschte man sich, in einem Anhang die amerikanischen Gedichte nachschauen zu können, wie das in der erwähnten Anthologie von Susan Kreller editorisch perfekt realisiert wurde. Kindergedichte sollten immer auch für Erwachsene da sein.
Wie schön aber ein Kindergedicht sein kann, zeigt ein kleiner Text von Juanita Havill in der Übersetzung von Birgitt und Johannes Kollmann:
Langsam gleitend
durch flüssiges Silber
seh’n wir das Wasser
wie’s zittert, wie’s schimmert.
mit dem Riesenlöffel rühr’n wir im Licht
und fahren dem Mond
direkt durch’s Gesicht.
© Juanita Havill / Birgitt und Johannes Kollmann
Uwe-Michael Gutzschhahn
Kenn Nesbitt (Hg.): Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht! Gedichte zur guten Nacht.
Mit Illustrationen von Christoph Niemann. München: Carl Hanser Verlag, 2019, 186 S.