Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Das Rätsel eines Traumes ist jedem vertraut unzugänglich. Man streift durch Bilder und Metaphern, Erfahrenes, Erdachtes, Phantasiertes, Ersehntes und Gefürchtetes. Scheinbar zusammenhangslos. Scheinbar scheinhaft. Aber irgendwie real und amalgamiert von dieser eigentümlich ablaufenden Erfahrung des Träumens: eine Disparität.
Die Gedichtsammlung Sebastian im Traum, erschienen 1915, ein Jahr nach Georg Trakls Tod, trägt im Titel den Traum. Hat man sich im Kontext zur Werbung irreführen lassen und verknüpft Traum etwa mit Traumhaus, Traumreise, Traumauto oder anderen traumhaft schönen Gütern, wird die Leseerfahrung von Trakls Gedichten vermutlich eher ein Trauma. Die Zeit des Dichters ist eine Zeit der Entbehrungen, wie zum Beispiel des ersten Weltkrieges, dem er selbst zum Opfer fiel. Die Gedichte wiederum sind keine Entbehrungen. Sie sind reich an Schwermut, an dunklen Orten, fremden Gestalten und irritierenden Bildern: schwarzer Frost, purpurne Schneewolken, grüne Häupter der Heimatlosen, nachtendes Meer. Der Tod und das Wahnhafte verfolgen sich selbst, Vers für Vers, vielleicht mit der Hoffnung, in diesem Strudel Erlösung zu schaffen. Doch sie blitzt selten durch.
Unvermittelte Ereignisabfolgen und nicht so recht zueinander passen-wollende Sinneseindrücke lassen Leserinnen und Leser ratlos zurück. Ratlos, das bedeutet bei Trakl auch: dass es kaum mehr zu erraten ist, um was es in einem Gedicht geht. Aber um was geht es in einem wirren und dunklen Traum? Vielleicht um den Ausdruck dieser ästhetischen Gefühlssignatur selbst. Bei Trakl ist es der Ausdruck der Düsterkeit. Den Bezug zwischen Lyrik und dem Leben des Dichters gleich einer Traumdeutung herzustellen, erscheint mir vergeblich. So verbleiben die Gedichte Trakls unheilvolle Abrisse mit nur losen Bezugsgrößen, aber feinsinnigem Gespür für das Dunkle in der Welt. Das Rätsel eines Traumes und das Rätsel seiner Gedichte scheinen mir dasselbe zu sein.
In der Sammlung von Werken, Entwürfen und Briefen von Reclam sind auch alle übrigen Gedichte Trakls enthalten, was sie zu einem hervorragenden, kleinen Studienobjekt macht. Die Tiefe des Werkes Trakls lässt sich darin ganz besonders gut begehen. Gerade in den Briefen zeigt sich, dass Trakl auch andere Töne erklingen lassen kann, ebenso in der früheren Dichtung, die der Musik der damaligen Zeit näher steht. Die Entwürfe hingegen halten echte Überraschungen für all jene, die noch weiter in sein Werk, ja geradezu in seinen Kopf eindringen wollen. Etwa ist immer wieder zu beobachten, wie er die Eindeutigkeit von außertextuellen Bezügen systematisch herausnimmt und nur noch einen Schatten davon übrig lässt. Traumhaft bleibt der passende Begriff für Trakls Lyrik.
Trakl, Georg (1915): Sebastian im Traum;
In: Kemper, Hans-Georg; Max, Frank Rainer (Hg.)
„Georg Trakl. Werke, Entwürfe, Briefe“
Reclam, 1984;
367 Seiten, Softcover;
ISBN: 978-3-15-008251-5
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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