Eingestreute Kritik: Matthias Kehles Gedichtband »Ausgelassene Schweigeminute«

Feine poetische Widerhaken

 

Wenn man Rezensionen zu den Gedichtbänden von Matthias Kehle liest, so stößt man innerhalb der zumeist positiven Besprechungen auf einen eigenartigen Argumentationsstrang. Allenthalben wird der karge, lakonische Stil von Kehle gelobt, die scheinbar spröde Wahrnehmung, das oft scheinbar abgebrochene, wie ein sprachlicher Reststumpen stehengelassene Ende der Gedichte, das den LeserInnen viel Spielraum für eigene Assoziationen lasse. Im Deutschlandradio hieß es gar: „In den Gedichten selbst sind es gerade die Lücken und Leerstellen, die produktiv werden.“ Es scheint also das Unausgesprochene zu sein, was bei den Rezensenten Wirkung hinterlässt. Man kann bisweilen den Eindruck gewinnen, Matthias Kehle werde mehr für das gelobt, was er nicht geschrieben hat, als für das, was er geschrieben hat. Aber dem muss man sich ja nicht anschließen.

Natürlich ist es produktiv, zwischen den Zeilen zu lesen, aber es ist auch durchaus sinnvoll, die Zeilen selbst zu lesen. Denn sie sind ja schließlich mehr als ein bloßes Text-Passepartout um das Nichtgesagte. Betrachten wir also das, was in dem neuen Gedichtband tatsächlich steht. Und da fällt natürlich als Erstes der vielsagende Titel auf. Das Cover zeigt das bekannte Edward Hopper-Gemälde „Room in New York“. Man sieht ein voneinander abgewandtes Paar, er liest die Zeitung, sie berührt mit dem Finger eine Klaviertaste. Eine Art bildgewordene Schweigeminute, wenn man so will. Der Titel fügt dem visuellen Eindruck aber noch einen poetischen doppelten Boden hinzu. „Ausgelassene Schweigeminute“, so lautet er und diese augenfällige Doppeldeutigkeit dürfte auch Menschen aufgehen, die eher ungeübt im Lesen von Gedichten sind.

Wird hier die Schweigeminute einfach ignoriert, indem das allgemeine Gesprächsrauschen und Gequassel weitergeht, oder wird die Schweigeminute fröhlich und ungezwungen zelebriert? Das bleibt offen, verweist aber darauf, dass Kehle ein sicherer Lotse durch sprachliche Untiefen ist. Die Unmittelbarkeit dieses poetischen Vexierbildes leuchtet auf Anhieb ein. Man trifft auf solche direkten Doppeldeutigkeiten in Gedichtband-Titeln relativ selten. Bei Ulla Hahns Gedichtband „Spielende“ war es so, wo nur durch eine andere Betonung ein zweiter Sinn sichtbar wird. Noch schöner ist es Richard Pietraß mit seinem Gedichtbandtitel „Was mir zum Glück fehlt“ gelungen. Auch Gottfried Benns Gedicht „Du übersiehst dich nicht mehr“ wartet mit einer ähnlichen poetischen Volte auf. 62 Gedichte unterteilt in sechs Kapitel enthält der Band. Manche dieser Kapitel umfassen nicht mehr als fünf Gedichte, andere über zwanzig. Im ersten Kapitel sind kurze Alltagswahrnehmungen versammeln und bemerkenswert ist der sichere poetische Strich, mit dem Matthias Kehle komplexe Skizzen entwirft wie in dem Gedicht „Café Isetta“:

Ein Mann mit
Rollator schaut
Bauarbeitern zu

ein paar Brocken
Russisch telefoniert
eine Mutter mit Kind

zu leicht bekleidet für
Oktober der Sommer
verlaufen ohne

die Mädchen übten
Lichtverzicht so ganz
allein nur Kaffee
und Zuckergäste

Nur wenige präzise gesetzte Worte und schon entwirft Kehle ein ganzes Tableau, ein Geflecht von menschlichen Beziehungen, jahreszeitlichen Anmerkungen und poetischen Bildern. Das Ergebnis: eine Szenerie Hopper’scher Qualität. Was macht einer wie Kehle eigentlich mit dem jahreszeitlichen Lieblingstopos der Dichter, dem Herbst? Auch hier reichen ein paar lakonische Verse: „ein hoch aufs tief / ein anderer himmel / heute so abgelichtet // jeder hügel ein / ascherücken jetzt nimmt / der fahrtwind zu“. Wo andere Poeten über Vanitas und Vergänglichkeit ganze Oden verlieren und ein so schönes paradoxes Bild wie „ein hoch aufs tief“ rhetorisch aber so richtig abgefeiert hätten, streut Matthias Kehle nur einige wenige Worte ein: „hügel“, „ascherücken“ „Fahrtwind“, und schon muss man über den Herbst des Lebens keinen Satz mehr verlieren. Es ist eine Subtilität in diesen Gedichten, die dem aufmerksamen Leser Räume eröffnet, es sind Verse, die am Ende durchaus lose Fäden hinterlassen, die man jederzeit weiterspinnen kann.

Übrigens unterliegt dieser Dichter nicht der Gefahr, die wenigen Worte, die er verwendet, künstlich mit Gewicht aufzuladen, wie es viele andere Poeten tun, die eher im kurzen Gedicht unterwegs sind. Also kein Pathos, keine Erhabenheit, Kehle ist nicht erschüttert von der eigenen Tiefe. Stattdessen eine gewisse Lässigkeit, manchmal auch Sprödigkeit. Aber an sprödem Material haften die Assoziationen des Lesers leichter, gerade die scheinbare Wortkargheit dieser Gedichte liefert dafür die nötigen Freiheiten. Und wo für Pathos kein Platz ist, gibt es auch keinen Raum für Selbstmitleid, dafür einen erfrischenden Blick auf die eigene zukünftige Rezeptionsgeschichte: „Kein Antiquar betrauert / mich und meine Bücher / Gras wächst // über Pflichtexemplare / Ausleihfristen und / Warnhinweise bedauert // war ich einmal der Rede wert / bald bin ich neuer / Staub/ in alten Schläuchen //“. Wohltuend, dieser Verzicht auf die eigene Bedeutungshuberei.

Matthias Kehle ist leidenschaftlicher und versierter Wanderer und Bergsteiger, im Buch finden sich dazu zwar einige sehr schöne poetische Anspielungen, aber ausführliche lyrische Gipfelreportagen unterbleiben weitgehend. In einem (titellosen) Gedicht nimmt er Bezug auf eine einjährige Auszeit, zu der ihn überstrapazierte Adduktoren zwangen: „Wie malerisch / vier Schenkel tanzen / ein Sündenfall / die Adduktoren schmerzen // Ich bin ein alter / Mann vor mir du / bleiben Berge…/“ Dieses Gedicht findet sich in einem Kapitel mit dem Titel „nicht oder anders“ Hier finden sich auch erste Liebesgedichte mit veritablen erotischen Bezügen, ein Themenfeld, das Matthias Kehle bisher nicht so intensiv beackert hat. Diese eher intimen Gedichte ziehen sich auch noch hinüber ins nächste Kapitel „Ein schiefer Mund“ und offenbaren dabei so manche Pretiose: „lauter schlafende Hunde / die das Haus nicht / verlassen // auf den Bauch gedreht / schlafen wir ein vor / lauter Gier //“ Allein, wie hier unterschwellig auf die Bedeutungsfacetten des Wortes „lauter“ angespielt wird, lohnt die Lektüre. Es kann aber auch direkter zur Sache gehen: „vor Lust handzahm / und ledern zugleich / Zehen und Zähne / und Schenkel //“ Ein offensives Geben und Nehmen und diese körperliche Verzahnung beschreibt Kehle knapp, treffend und energiegeladen.

Was bleibt nach der Lektüre? Der Wunsch, gleich noch mal dort hineinzublättern. Jeder Vers enthält feine Widerhäkchen, die im Gedächtnis festmachen und sich dort verankern.

Mit „Ausgelassene Schweigeminute“ hat Matthias Kehle nach sieben Jahren Feilen einen Band vorgelegt, der aus fein gearbeiteten poetischen Bauelementen faszinierende Gebäude … pardon … Gedichte errichtet und sie für das Schillern des Lebens bewohnbar macht.

Hellmuth Opitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Matthias Kehle, Ausgelassene Schweigeminute, Gedichte, Lindemanns Bibliothek, 2018
16, 80 €, ISBN: 978-3-96308-015-9

 

 

 

 

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