Poetour, Partitur, Petrischale
Drei bemerkenswerte Gedichtbände von Autorinnen, die jeweils in den 60ern, 70ern und 80ern geboren worden sind. Lassen sich Generationsunterschiede in Ihrem Schreiben, in ihrer Poetik feststellen? Das lässt sich trennscharf kaum beantworten. Der Gesamteindruck jedenfalls bleibt: wohltuend heterogen.
Es gibt Gedichtbände, an denen man ablesen kann, welche Aufenthaltsstipendien der/die PoetIn schon genießen durfte. Da gibt es ganze Istanbul-Zyklen, kalifornische Villa-Aurora-Schwärmereien und nicht zu vergessen das tiefe Eintauchen in Venedigs Kanäle oder Roms Sehenswürdigkeiten anlässlich eines Stipendiums in der Villa Massimo. Und wenn viel vom Gartenhaus am Süderwall die Rede ist, weiß man, dass der/die AutorIn das Glück hatte, fünf Monate lang die Stadtschreiberstelle in Otterndorf besetzen zu dürfen. Klar, dass DichterInnen bestrebt sind, dem Genius Loci etwas Poesie abzutrotzen, dem Aufenthalt lyrisch gerecht zu werden oder einfach eine Art verpflichtende Dankbarkeit verspüren, weil für einige Zeit ihr Auskommen gesichert ist. Das Ergebnis lässt sich oft genug zwei Kategorien zuordnen. Die erste kann man Postkarten-Lyrismus nennen, oberflächenhaft skizzierende Beobachtungen von Land und Leuten nach dem Motto „Kilroy was here.“ Die zweite ist eine Art von Insider-Coolness. Da gibt sich der/die PoetIn als jemand, der/die sich den historischen Kontext des Aufenthalts auswendig draufgeschafft hat und nun, lässig vor sich hin flanierend, in lyrischen Randbemerkungen an der Sprache abperlen lässt. Man kann sie sich richtig in ihrem Parlando mit Sonnenbrille vorstellen, nichts soll sie auf den ersten Blick beeindrucken.
Ganz anders die 1965 in Bremen geborene Sabine Schiffner. Sie war schon an diversen Orten, von denen oben die Rede ist, einen Schwerpunkt bildet Osteuropa, z.B. die Bukowina, Georgien. Der Unterschied: Ihre poetischen Wahrnehmungen lesen sich weitaus intensiver. Woran das liegt? Diese Gedichte sind offener, sie können noch staunen. Sie lassen sich von Begegnungen und Beobachtungen noch beeindrucken, das gibt schon der Gedichtbandtitel „Wundern“ trefflich wieder. In dem Gedicht „hier fegt man die Straßen mit rosensträußen“ gelingt es ihr, einer gewöhnlichen Straßenszene in Czenowitz einen mythischen, fast schon dekadenten Glanz zu verleihen, der anscheinend ansteckend wirkt: „und dann können auch wir nicht länger / stehenbleiben und fangen auch an zu tanzen / inmitten der stadt czernowitz / wo man die straßen mit / rosensträußen fegt.“ Ein Bild, das haften bleibt. Das Gedicht „das lied auf dem marktplatz von stryi“ hingegen zeichnet ein topographisches Koordinatensystem der Bedrohung: „hast du angst vor rumänien / furcht davor in die ukraine zu fahren / erscheint dir die durchquerung ungarns wie ein horrortrip / und moldawien / hat dir jemals jemand davon erzählt / …“ Zielgenau legt Sabine Schiffner hier den Finger auf den neuralgischen Schmerzpunkt der aktuellen Weltlage – fast mit prophetischer Gabe –, denn beim Verfassen dieses Gedichts war der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nur für Fachleute absehbar. Das Gedicht fokussiert sich noch weiter: „kannst du mir sagen wem dieses gotteshaus in galizien gehört / den griechisch katholischen unierten altorthodoxen / römisch-armenischen, den georgisch-orthodoxen / oder den neuerdings hier hausenden adventisten / wachttürmlern oder protestanten / den juden jedenfalls nicht mehr / die wurden bis 1945 ermordet / …“ Hellsichtig zeigt Schiffner auf, wie eng in einem einzigen Gebäude die religiösen und weltanschaulichen Konfliktlinien verlaufen – Kriege, Vertreibungen, Völkermord sind die bewusst unausgesprochene Folge, wenn der zerstörerische Funke erst einmal überspringt. Die Poetin schaut mit seismographischer Genauigkeit in die Risse im Firnis vermeintlicher Zivilisation – im titelgebenden „Wundern“ steckt schließlich die „Wunde“ wortwörtlich schon mit drin. Also von wegen Stipendiatengedichte mit Postkartencharme!
Virtuosin der Tonlagen
In den 8 Kapiteln dieses 76 Gedichte umfassenden Bandes finden sich aber auch noch ganz andere Tonlagen. In Naturgedichten wie „goldammern“ und „anemonen“ scheint Sabine Schiffner den Sprachduktus und das Versmaß der Romantiker übernommen zu haben. In letzterem Gedicht heißt es: „im garten wachsen manche anemonen / die letzten winter allem kühlen trotzten und / bis ins frühjahr blühten aber itzt hält der frost so lange / bittren einzug //.“ Man kann das für bloße Adaption, für Nachahmung halten, oder, wie manch idiosynkratische Gemüter, für kulturelle Aneignung einer längst vergangenen Literatur-Epoche. Aber wie Sabine Schiffner hier Rhythmus und Ton hält, zeigt das nur ihren poetischen Stimmenreichtum. Aber nochmal zurück zur Wunde, die auch im Wundern steckt. Es gibt einige Gedichte, die Verletzungen und Narben in sich tragen, ob mit biographischem Bezug oder nicht, ist unerheblich, sie fassen den Leser jedenfalls direkt an. Das Gedicht „was für immer verschwand“ thematisiert einen tragischen Kindesverlust. Schiffner begleitet den Leser mit subtilem Binnenreim zum Ausgang in eine Schwärze, die niemanden kalt lässt: „ich geh auf meiner straße vor mich / hin die frage die der wind / mir in den kopf gesetzt hat, lässt mich / nicht mehr los ein foto gibt es nicht / wo ist es bloß / das dritte kind / das zu mir kommen sollte / das wollte das / wollte //.“ Mit „Wundern“ erweist sich Sabine Schiffner als Virtuosin unterschiedlichster farbenreicher Tonlagen. Das Cover zeigt die Illustration einer Libelle und genau so sind die Gedichte: neugierig, schwebend leicht und fragil.
Als Meisterin der Tonlagen zeigt sich auch die slowenische Lyrikerin Tamara Štajner in ihrem Debüt-Gedichtband „Schlupflöcher.“ Dieser Band ist ein synästhetisches Vergnügen, denn die meisterhafte Viola-Spielerin, Komponistin und Performerin hat mehrere Gedichte ihres Bandes mit Partituren versehen, sodass man diese poetischen Notate auch als Noten lesen kann, inklusive Anweisungen für Tempo und Betonung. Zudem kann man sich über einen QR-Code eine Vielzahl von Poetry-Video-Clips anschauen, die Tamara Štajner im Rahmen eins audiovisuellen Projekts bei youtube als Playlist zusammengestellt hat. Der Eindruck, man habe hier ein enormes Multitalent vor sich, stellt sich auf Anhieb ein, auch ohne zu wissen, dass die 35jährige bereits Mitglied in der Jungen Akademie der Wissenschaft und der Literatur in Mainz, also Teil des Exzellenz-Clusters des akademischen Nachwuchses ist. Zudem wurde sie in die Gutenberg-Akademie aufgenommen. Können ihre Gedichte aus diesem Universalgenie-Schatten, diesem akademischen Über-Ich hervortreten, eigenständiges poetisches Profil gewinnen? Bei den Poetry-Video-Clips kann man bisweilen den Eindruck gewinnen, sie gingen angesichts der Erwartungen in die Knie. Bei einigen der Clips scheinen Text, Ton und Bild ohne Kohärenz nebeneinander herzulaufen. Das ist nicht uninteressant, der Zusammenhang wird allenfalls durch das Format selbst beglaubigt. Bei den Versen selbst lohnt es sich umso mehr, genauer hinzuschauen. Da beginnt ein Gedicht wie „porto“ ganz klassisch: „makellos ein spät- / sommermittag am rand von / westeuropa von / nordportugal unter azur- / blauem wolken- / leerem himmel …“ Nichts scheint hier aus den Konventionen des üblichen Reisegedichts auszubrechen, dann aber ist von „harter Sonne“ die Rede und die schafft einen fast brutalen inhaltlichen Bruch. Wie ein Operationsinstrument greift dieses Bild von oben in den Brustkorb der harmlosen Reise-Impression: „vernichtender / stich eiternde wunde durch- / bohren brust zerfleischen / zerreiben ein letztes mal die / herzwand durchstechen /.“ Eben noch eine Postkartenidylle, dann ein blutiger Eingriff – ein einziges Metaphern-Scharnier sorgt für eine um 180 Grad gedrehte Stimmung. Das ist kunstvoll gemacht. In dem Kapitel „Fermaten“ greift Štajner Musik als poetisches Motiv auf. Fermate sind Zeichen der musikalischen Notation über einer Note oder einer Pause, die sich dadurch auf eine unbestimmte Zeit verlängert. Die Universalkünstlerin nutzt den Begriff Fermate als musikalische Chiffre für die Corona-Pandemie. Geniale Idee. „co ro na fer ma te hal ten“ heißt es im Zyklus „über der sava“, der sich in diesem Kapitel befindet. Das Gedicht beginnt gleich mit einer rasanten Tempoanweisung: „von achteln auf sechzehnteln / auf zwei+dreißigsteln schleichen / + offenbaren sich ohren nicht / nur okularen //…“ Und schon eine Strophe weiter heißt es: „viren halten lungen- / fresser bestien“. Bei Tamara Štajner liegt das eng zusammen: Musik & Medizin, Klang & Körper, Sinfonie & Pandemie. Denn wenig später wird auch auf einen Großmeister zurückgegriffen, dessen großes Jubiläumsjahr 2020 coronabedingt auf die lange Bank geschoben werden musste: „im jahr jenes / ludwig van jenes tauben / meisters jenes verstummen … //.“ Körperlichkeit in jeglicher Form zieht sich durch den ganzen Band, selbst in der poetischen Hommage an die Musikerin, Autorin und Performerin Olga Neuwirth ist ihr Auftritt ein Auslöser körperlicher Reaktionen, denn es klingt nicht nur, es kloingt: „selten kloingt es da so / hübsch die härchen stellen / sich auf kloing! die härchen / kloing!“ Und so geht es dem Leser auch angesichts dieses Debüts von Tamara Štajner – einem Gedichtband für alle Sinne.
Poetische Experimentierfelder
Körperlich geht es auch in dem Gedichtband „Organische Portraits“ der in Berlin lebenden Autorin Silke Andrea Schuemmer zu. Scheinbar heterogene Themenfelder wie Liebe, Tod und Wissenschaft werden in diesen lyrischen Versuchsanordnungen kunstvoll miteinander verzahnt. Oft genug liefert die Petrischale die Basis für diese Gedichte, wissenschaftlich fundiert und doch fragil Material und Erkenntnis. In dem Gedicht „Körperlandschaften in Zwischenwelten“ heißt es: „auf sendung geht die maus erst nach laboreinschluss / vorher ist sie nur radar sie richtet parabolisch / ihren ohrbuckel nach süden hin und / fängt das schweigen aus einem früheren leben ein / das ohr wirft ein signal ganz unerhört / aus dem labor zurück ins kalt gefrorne mäuseall //.“ Das Gedicht spielt auf die Experimente an, die menschliches Gewebe mittels Mäusen als Wachstumstreiber nachzüchten wollen, ein legendäres dokumentarisches Foto zeigt eine Labormaus, aus deren Rücken ein menschliches Ohr wächst. Auf dem Titel des Bandes bildet eine Illustration das Foto nach. Schuemmer nutzt dieses real existierende Foto indes für ein schönes poetisches Bild: Das Ohr, das wie ein Parabolspiegel in eine schweigsame Vergangenheit lauscht. Überhaupt kommen diese „Labor-Gedichte“ keineswegs steril oder kalt daher, die 1973 geborene Poetin nutzt die Präzision vorläufiger wissenschaftlicher Erkenntnis eher als Startrampe für kühne Ausflüge und Vergleiche: „Überall rinnt es und fließt / aus Pipetten und Hähnen und Verbänden / aus Rückenmarkskanülen, Drüsen und / von Fensterscheiben auch / Ich destillier euch sagt der Assistent / was übrig bleibt ist Lebenselixier //.“ Der Lebenssaft hier einmal ganz wörtlich in flüssiger Darreichungsform, vom Fließen bis zum Tröpfeln lässt sich in einem klar umrissenen Bildrahmen eine physische Existenz von Anfang bis Ende poetisch durchdeklinieren. Doch es geht auch metaphysisch: Eine Überschrift des 14 Kapitel umfassenden Bandes lautet: „Tara einundzwanzig Gramm final“, so viel soll angeblich die Seele wiegen oder wie hier deren Verpackung. Aber statt den Pathos des Filigranen zu nutzen, schlägt Silke Andrea Schuemmer in dem Gedicht „slut walk“ bewusst einen härteren Ton an: „eine die durch kalte betten schläft / im viel zu kurzen hemdchen tanzt / die gierig schon aufs nächste leben schielt / und ihre jüngsten tage in die haut / strich um strich um strich ritzt / die von kränzen schwärmt als läg ein blumengruß / hinter ihrer bühnentür / einundzwanzig gramm fürs ticket zahlt sie gern / glaubt sie wenigstens und lacht //.“ Mögliche Erwartungen der Leserschaft, dass dies auch durch Filme aufbereitete 21-Gramm-Seelenthema doch bitte mit gebotener Empfindsamkeit aufbereitet werden solle, konterkariert Schuemmer mit existentieller Schärfe und grimmigem Sarkasmus. Die Autorin arbeitet unter anderem auch als Trauer- und Hochzeitsrednerin, sie kennt sich also mit Erwartungen aus und weiß, wie man sie erfüllt oder ad absurdum führt. Der 210-Seiten- Band enthält Gedichte aus 24 Jahren Schaffenszeit und der Variantenreichtum ihrer poetischen Ansprachen ist beeindruckend. Jedes ihrer Gedichte enthält mindestens einen wirklich wahren Satz, es gibt nur wenige aktuelle Gedichtbände, die ein ähnliches Qualitätsurteil verdient haben. Zu guter Letzt natürlich die Liebesgedichte, von denen Silke Andrea Schuemmer im Kapitel „Amourellen“ einen Strauß gebunden hat. Schon dieser Titel weist auf die Machart dieser poetischen Pastiches hin, diese mit geschwungenem Pinselstrich hingeworfenen Verse: „ ich war noch nie ergreifend / und ans Besitzen glaub ich nicht / doch bei deiner rechten Hand / da meld ich Eigenbedarf an / wie sie mir so locker im Kreuz liegt / und ein Korsett aus Gänsehaut aufstreicht // …“ Es ließe sich endlos zitieren. Dann doch lieber ein Ein-Wort-Fazit: wunderbar.
© Hellmuth Opitz
Sabine Schiffner: Wundern, Gedichte, Quintus-Verlag, 112 S., € 15, ISBN: 978-3-96982-047-6
Tamara Štajner: Schlupflöcher, Wunderhorn, 72 S., € 22, ISBN: 978-3-88423-672-7
Silke Andrea Schuemmer: Organische Portraits, Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 210 S., € 15, ISBN: 978-3-88769-496-8
Lieben Dank für den tollen Blogpost;)