Fremdgehen, jung bleiben – Folge 33: Sören Heim

Poesie ist nicht nur Wort. Poesie ist Leben, das sich ständig erneuern muss. Doch was heute noch neu und fremdartig erscheint, gehört morgen schon zum Altbewährten. Junge Lyrik beschreibt den Raum dazwischen. Deshalb wagt Stefanie Lux in Nachfolge von Leander Beil an jedem 8. des Monats in der Kolumne »Fremdgehen, jung bleiben« einen freien Blick auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt.

 

Im Alten Testament befindet sich das Schir ha-Schirim, im deutschen Sprachgebrauch als das Hohelied des Salomon bekannt. Übersetzt bedeutet dies sinngemäß: „Das Schönste aller Lieder“. Es stellt eine Sammlung von Liebesliedern dar und wer könnte schon widersprechen, dass die Liebe und ihre Lobpreisung das Schönste ist, über das gesungen, gedichtet und vor allem das gefühlt werden kann?

Das Hohelied ist ein fast handlungsfreier Dialog zweier Liebenden, die darin ihre Liebe, ihre erotische Begierde und ihre Gefühle dem anderen gegenüber äußern. In religiöser Auslegung sowohl im Juden- als auch Christentum wird die darin besungene Liebe oft als die Liebe zwischen Gott / Jesus und den Gläubigen gesehen.

Über jene Auslegung wird seit der Aufklärung gestritten. Doch ist es bei Liebesbekundungen nicht egal, wer der Adressat ist? Ist die menschliche, weltliche Liebe weniger wert als eine göttliche? Ist es so, wie Franz Rosenzweig behauptete, dass die menschliche Liebe nur durch die Liebe Gottes ermöglicht wird? Die Beantwortung ist letztendlich jedem selbst überlassen, da Glaube und Liebe höchst intim sind.

Vielleicht ist ja die Liebe zu Wein und Zigaretten, zu etwas, das einem offensichtlich nicht gut tut und sich doch in jenem Moment genau richtig anfühlt, oder ein rauschhaft verbrachter Abend mit einem Menschen, den man am nächsten Tag wieder gehen lassen muss, weil die Trennung aufgrund unterschiedlicher Umstände unumgänglich ist, auch eine Form der Liebe, die ihre Berechtigung besitzt. Vielleicht ist sie nicht so allumfassend, vielleicht ist sie nicht so tief wie die wahre Liebe – weltlich oder göttlich – und ist dennoch nicht weniger wert, bedichtet und besungen zu werden. Aber was ist schon wahr?

 

hohes lied / domschattenkater

so viele jahre, nur um zu lernen:
keine liebe ist besser als wein.
und auch wein soll so gut ja nicht sein…
(hast du zum beispiel schon einmal
bilder von kehlkopftumoren gesehen?)
herrje. ich werde dir nachlaufen (unbelehrbarer!)
die königin hat mich in ihre gemächer geführt.

heute, etwa, da gehe ich wieder am dom spazieren,
spät, am ostwall, um die finsteren ecken,
– denn warum sollte ich
wie ein verschleierter sein bei den herden? –
wo wir einst mit der halben flasche saßen
uns berührten, mit blicken, und worten, und mehr
– sieh, du bist schön, meine freundin,
sieh, deine augen sind tauben –
und uns weideten wie die zicklein bei den hütten der hirten.

lau ist’s bereits, eine frühlingsnacht warm,
als begleiter noch immer mein ewiger winter
– die balken unserer behausung warn zedern,
unser getäfel zypressen,
sommer doch selbst war das haus,
und sein ende bestimmt –
horche! geliebte! da kommt er, springt über berge
strahlendes gestern rauscht an in gleißendem licht.

ach was. ein motorrad ist’s. im düster fällt alle ordnung.
aus fenstern und ritzen und gossen lugt finster verrat
wenn du lauschst hörst du’s hier selbst: das heulen –
maschinen im winde.
fast, wie von fern unser schweigen nach wogendem streit.

das verborgne cafe in verwinkelten gassen liegt schlafend.
es wartet auf anderer gelächter.
und der feigenbaum rötet die feigen nicht
und heut nacht kennt der himmel nicht gold,
kennt nicht silber
(doch einmal, da besuchte die mondfrau mich…)

„ich will doch aufstehen und in der stadt umhergehen,
auf den straßen und auf den plätzen, will suchen,
die meine seele geliebt“ – welch garstig verlangen.
erinnerst du dich an den abend park? schwur- und rauchesverhangen
den kelch an den lippen wie ein süßes und schweres versprechen?

was dir entsproß: ein lustgarten von granaten,
nebst edlen früchten,
zyperblumen nebst narden; narde und safran.
unter dem apfelbaum hast du mich geweckt
wir pflückten vom anderen baume
und schritten zum dritten …

… und richtung bahnhof schreite ich nun rascher aus,
denn es wächst mir kein bett in den hügeln mehr,
keine späten vergorenen trauben
und es wächst dem erbrechenden morgen kein fetzen blaues.

meine geliebte ist in den garten gegangen,
zu den würzkrautbeeten,
um im grünen zu weiden und lilien zu pflücken.
denn hier, in den kübeln im schotter brach schon jeder stiel.

meine geliebte ist in die fremde gegangen,
zu den satten wiesen,
um im großen zu weiden und leben zu pflücken.
denn hier, zwischen glas und asphalt ist leben nicht viel.

salomo hatte den weinberg;
er übergab den weinberg den hütern:
mein eigener weinberg darbt vor mir;
die tausend berge sind dein
unser sind: tausend kippen
die leeren gesichter der pendler morgens um fünf
geschmack von staub auf der zunge
roter schorf, wie blut, auf lippen
sind unser, sind meines,
denn heute noch halt ich sie fest.

heimwärts kehr ich, was immer heißt das, zuhause
mein haupt ist voll tau, meine locken voll tränen der nacht.
so viele jahre, und kommende stehn in den sternen.
so viele jahre. der bahnhof. trassen ins grau

 

© Sören Heim

 

Sören Heim ist freier Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Heim ist unter den Preisträgern des Nachwuchspreises der Internationalen Gemeinschaft deutschsprachiger Autoren, des Lyrikwettbewerbs der Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2013, sowie Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung Pena e Anton Pashkut (Stift des Anton Pashkut), des Sonderpreises Favorit von Daniel Glattauer der art.experience 2014, des Kunstförderpreises der Stadt Bingen 2015 und Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2018.

 

 

Stefanie Lux. Foto: privat
Stefanie Lux. Foto: privat

Stefanie Lux, geboren 1987 in Kaufbeuren, Studium der Germanistik, Politikwissenschaften, Geschichte, Literatur- und Kulturtheorie in Gießen und Tübingen, lebt in München.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert