Augustins Fundsachen, Folge 12: »Dar / Gabe« von Czesław Miłosz – Wydawnictwo Literackie, Kraków 1998

Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

 

Öffentlicher Bücherschrank
Öffentlicher Bücherschrank (alle Fotos: Michael Augustin)

Lob des öffentlichen Bücherschranks – oder: Backpulver und Poesie

 

Angesichts des grassierenden Buchantiquariatssterbens allerorten – und des Rückzugs der Antiquare aus den betretbaren Ladengeschäften in die für Leser und Stöberer unzugängliche Anonymität des Onlinehandels – gibt es in etlichen Städten und auch auf dem flachen Lande Erfreuliches zu beobachten: eine stetige Vermehrung sogenannter „öffentlicher Bücherschränke“, die es uns erlauben, Bücher aus dem eigenen Besitz für interessierte Passanten frei zugänglich und mitnehmbar zu machen oder selber ganz nach Lust und Laune zuzugreifen und zum Buchnachbesitzer zweiter, dritter oder werweißwievielter Hand zu werden. Ehemalige Telefonzellen, geknackte Panzerschränke, Vitrinen, Regale oder sonstige übermannshohe Behältnisse dienen dabei den freigestellten Büchern als Schutz vor Wind und Wetter, vermögen aber natürlich nicht dem Zugriff notorischer „Abräumer“ zu wehren, die ihre Rucksäcke, Fahrradanhänger oder Aldi-Säcke unter Verletzung aller Spielregeln wahllos mit den Bücherspenden vollstopfen, um sie dann zu Hause doch noch via eBay ins Onlinegeschäft zu verschleppen.

Öffentlicher Bücherschrank (Detail)Eines der schönsten Exemplare des öffentlichen Bücherschranks, die ich kenne, eine sprudelnde Quelle überraschender Lektüren, befindet sich auf dem Friedensplätzchen im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk. (In direkter Nachbarschaft zu den lesbaren Lebensmitteln kann übrigens auch Ess- und Trinkbares deponiert oder entnommen werden nach genau denselben Spielregeln.) Ich kenne diesen Ort, weil nächste Verwandte gleich schräg gegenüber wohnen und schätze es, wenn ich mal für ein paar Tage zu Gast bin, meiner Büchersucht Genüge zu tun und praktisch jedes Mal beim Verlassen des Hauses schnell einen Blick in den Schrank zu riskieren, der sich mehrmals pro Tag mit neuen alten Werken zu füllen scheint durch sehr freundliche Geisterhand oder konkreter: durch die real existierenden Hände von Mitgliedern einer Nachbarschaftsinitiative in Kooperation mit dem Literaturbüro NRW. Kinderbücher landen immer in der unteren Etage der von drei Seiten zugänglichen Vitrine, was hier in der Gegend offenbar alle Kinder wissen, vor allem Schulkids, die man hier vor den Fundsachen hocken oder knien sieht, noch mit dem Ranzen auf dem Rücken.

Neulich, an einem Sonnabendabend gegen 21 Uhr wollte die nahe Verwandte einen Kuchenteig zum Geburtstag ihrer kleinen Tochter am nächsten Tage anrühren, musste aber erschüttert feststellen, dass kein Backpulver im Hause war, worauf ich mich freiwillig zum Spätnotkauf in einem nahen Supermarkt meldete. Einen kleinen Haken auf dem Wege dorthin schlagend, passierte ich natürlich (wohl zum dritten Male an diesem Tag) den öffentlichen Bücherschrank und fand dort zu meiner Überraschung und zu meinem Glück einen zweisprachigen, gebundenen, fast dreihundertseitigen, 1998 in Krakau erschienenen Gedichtband des polnischen, in Šenteniai geborenen Dichters und Nobelpreisträgers Czesław Miłosz. Unvergesslich für mich eine Begegnung mit ihm Anno 1987, als auch er der Einladung nach Iowa City gefolgt war, um dort an der Universität an den Jubiläumsfeierlichkeiten des weltberühmten International Writing Program teilzunehmen. Mit Seamus Heaney hat er dann vor und mit uns anderen Gästen über Gedichte diskutiert, den ultimativen Hort der Freiheit. Ich weiß noch, wie ich am Abend mit Miłosz über Johannes Bobrowski gesprochen habe, dessen Werk ihm natürlich vertraut war und mit dem er, wären die beiden sich jemals begegnet, einiges zu besprechen gehabt hätte über das geheimnisvolle Sarmatien, das beider Poesie geprägt hat – über diese Landschaft mit Menschen, die ihre Gedichte „bewohnen“.

Der Gedichtband ist übrigens von Karl Dedecius übersetzt worden, einem unschätzbar wichtigen Brückenbauer zwischen der polnischen und der deutschen Poesie zu Zeiten des Kalten Krieges. Dedecius ist es zu verdanken, dass Leute meiner Generation in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren  ü b e r h a u p t  Zugang zur polnischen Poesie hatten: Stanisław Jerzy Lec, Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska, Tadeusz Różewicz, Adam Zagajewski … oder eben Czesław Miłosz – er, Dedecius, hat ihre Gedichte damals trockenen Fußes über Oder und Neiße gebracht. Auch ihn habe ich mal treffen dürfen. In der Wohnung des Bremer Dompredigers Günter Abramzik, direkt am wunderbaren Bremer Markplatz. Für Radio Bremen hatte Dedecius im Konzerthaus „Glocke“ über Stanisław Jerzy Lec und die polnische Aphoristikertradition gesprochen.

Wie das alles blitzartig lebendig geworden ist nach einem glückhaften Griff in den öffentlichen Bücherschrank! Und Backpulver habe ich auch noch bekommen im nächtlichen Supermarkt. Der Kuchen war sehr, sehr gut! Das Buch ist es noch.

Nimm die Mandoline, / Laß die Finger gleiten. / Hau in die Saiten, / Ein schönes Lied, / Ein ödes Feld, / Ein leeres Glas, / Mehr brauchen wir nicht.

 

"Dar - Gabe" von Czesław Miłosz
“Dar – Gabe” von Czesław Miłosz

 

 

Czesław Miłosz
Dar / Gabe
Gedichte
Ausgewählt und übertragen von Karl Dedecius
Mit einer Einführung des Autors
Wydawnictwo Literackie
Kraków 1998

 

 

© Michael Augustin, 2022

 

Porträt Michael Augustin von Jenny Augustin
(Bild: Jenny Augustin)

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.

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