Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.
Freigestrampelt aus dem Korsett der Konventionen:
Jacques Préverts Paroles, 1947
Für Liebhaber von Büchern aus zweiter, dritter oder werweißwievielter Hand gibt es in Europa wohl kaum ein attraktiveres Pirsch- und Jagdgebiet als jenes zwischen der Sorbonne, dem Ufer der Seine und der Place Saint Sulpice.
Schier unfassbar ist hier das Angebot an einschlägigen Bücherstuben jeder nur erdenklichen Preisklasse. Der kleine Platz, an dem das Antiquariat Librairie de Cluny zu finden ist, wurde unlängst nach Samuel Paty benannt, dem 2020 auf bestialische Weise von einem Islamisten ermordeten Gymnasiallehrer.
In dieser wunderbarst mit Druckwaren aller Art vollgestopften und geldbeutelfreundlichen Librairie muss gerade ein paar Tage zuvor jemand seine beeindruckende Sammlung von Suhrkamp-Erstausgaben des Österreichers Thomas Bernhard verscherbelt haben. Zugegebenermaßen fällt es mir nicht leicht, sie einfach ungekauft im Regal stehen zu lassen, 6 Euro das Stück … aber ich habe mir geschworen, während dieses Monats in Paris ausschließlich Bücher zu erstehen, die mir in irgendeiner Weise bei meinem Rimbaud-Projekt weiterhelfen könnten. (Wovon ich aber in dieser Kolumne gar nicht erzählen will.) In der Librairie de Cluny jedenfalls habe ich diesmal dann doch etwas Zeitgenössisches erstanden, für weniger als 10 Euro, einen Klassiker der französischen Nachkriegsliteratur.
Jacques Préverts längst legendären Gedichtband Paroles. Zwar nicht die noch einige Seiten schlankere Originalausgabe von 1946, aber immerhin doch die um ein paar Texte erweiterte Edition von 1947 mit dem tiefschwarzen Cover und dem in leuchtendem Rot gehaltenen Namen des Poeten nebst dem ebenso strahlenden Titel. Im Jahre 1900 wurde der spätere Schulabbrecher Prévert geboren, fand als junger Bursche seine Berufung als Schauspieler im Agitationstheater der Groupe Octobre, schrieb Drehbücher (z.B. für den späteren Kultfilm Les enfants du paradies / Kinder des Olymp), mischte eine Weile mit bei den Surrealisten um André Breton, fand aber schließlich seinen ganz eigenen Stil als Realpoet, der seine Gedichte und chansonartigen Texte in diversen Blättern und Zeitschriften weit verstreut veröffentlichte.
Der Initiative seines Freundes und Verlegers René Bertelé ist es zu verdanken, dass ein Großteil dieser Texte hübsch gesammelt und arrangiert zwischen die beiden Buchdeckel von Paroles geriet und so überaus erfolg- und folgenreich im Verlag les éditions du point du jour publiziert werden konnte.
Arroganzfreie Poesie, Alltagsdichtung aus dem Leben der kleinen Leute, antimilitaristisch, antiklerikal, libertär, für jede Leserin und jeden Leser hürdenfrei zugänglich, ohne baccalauréat oder Hochschulstudium – freigestrampelt aus dem Korsett der hohen Dichtkunstkonventionen seiner Zeitgenossen. Und – last but not least – singbar, wie nicht nur der Poet höchstpersönlich unter Beweis gestellt hat in zahlreichen Plattenaufnahmen, sondern auch Künstlerinnen und Künstler wie Juliette Greco, Yves Montand, Jacques Brel oder Charles Trenet. (Es lohnt sich sehr, auf YouTube nach entsprechenden Klangproben zu recherchieren! Besonders in Begleitung einer Flasche Bordeaux …). Prévert betätigte sich übrigens auch als Bildkünstler und Meister der Collage und arbeitete zusammen mit Kollegen wie Yves Tanguy, Max Ernst und Pablo Picasso. Nach der Veröffentlichung von Paroles ist er als Poet schnell international bekannt geworden. Kurt Kusenberg hat Préverts Gedichte und Chansons schon 1950 ins Deutsche übertragen und kein Geringerer als der Dichter, Übersetzer und City Lights Verleger Lawrence Ferlinghetti hat ihn in der englischsprachigen Welt berühmt gemacht. Jacques Prévert, der auf Fotos und in Filmsequenzen fast nie ohne brennende Zigarette im Mundwinkel zu sehen ist und drei Packungen Gauloises pro Tag geraucht haben soll, starb 77jährig an Lungenkrebs.
© Michael Augustin, 2022
Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.