»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Helmut Krausser
Ja, ich weiß, warum ich lebe,
Menschen etwas wiedergebe,
was sie damals nicht verstanden
oder fälschlich schwächlich fanden,
wie Franchetti, das Genie:
Den Juden, den verboten sie.
Seine Opern – fast vergessen.
Ich, von ihnen ganz besessen,
brenne für die gute Sache,
so als wäre seine meine.
Licht wird alles, was ich mache.
Asche krieg ich dafür keine.
© Helmut Krausser, Berlin und Palermo
+ Zu Original und Hintergrund
Unverkennbar das Vorbild für Helmut Kraussers titellose Verse ist »Ecce homo« von Friedrich Nietzsche. Was er übernimmt: Das lyrische Ich verzehrt sich, um die Welt zu erleuchten. Allerdings, Krausser sieht sich hier lediglich als Mittler. Das ist gerade deshalb bemerkenswert, da er doch als Primärschöpfer, etwa als Roman-, Lyrik- und Stückeautor, als Komponist und Librettist, bekannt und für sein Kunstschaffen ganz insgesamt vielfach ausgezeichnet ist.
Doch wer auf sein Leben schaut, sieht eben auch rasch, nicht nur der eigenen Kunst sieht Krausser sich verpflichtet, sondern ebenso der Weitervermittlung, der Vitalisierung und Implementierung bestehender, übersehener, ja, fast vergessener Kunst. Und zuvörderst ist hier selbstredend Alberto Franchetti zu nennen. Nicht nur hat er ihm, neben Puccini, in seiner Doppelbiografie »Zwei ungleiche Rivalen« (Bertelsmann 2010) in Buchform ein Denkmal geschaffen. Nein, Krausser setzt zudem seit Jahren viel Energie, Leidenschaft und Können darein, Stücke von Franchetti zu bergen, gegebenenfalls zu vervollständigen bzw. auszuarbeiten und zur Aufführung zu bringen – ein nicht eben einfaches Unterfangen, das er aber beharrlich und durchaus als inhärenten Teil seines Lebenswerks verfolgt.
So viel ganz knapp zum biographischen Resonanzraum, vor dem Helmut Krausser »Ja, ich weiß, warum ich lebe« verfasst hat – übrigens extra für diese Jubiläumsfolge der »Gedichte mit Tradition« (wie er auch schon dankenswerterweise ebenfalls auf Anfrage für die 200. Folge neu gedichtet hatte). Und nun noch zum Original:
Friedrich Nietzsche
Ecce homo
Ja, ich weiß, woher ich stamme,
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr’ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse,
Flamme bin ich sicherlich.
+ Zum Autor
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen am Neckar, lebt als freier Autor in Berlin und Palermo. Er verfasst u. a. Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Drehbücher, Gedichte, Libretti und Musikkompositionen. Mit »Fette Welt«, »Der große Bagarozy« und »Einsamkeit und Sex und Mitleid« wurden bereits drei seiner Romane fürs Kino verfilmt (1998, 1999, 2017).
Krausser ist vielfach preisgekrönt, u. a. wurde er ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis der Stadt München (1993) und dem Prix Italia für das beste europäische Hörspiel (2000). 2017 wurde er zusammen mit Lars Montag, der auch Regie führte, für »Einsamkeit und Sex und Mitleid« in der Kategorie »Bestes Drehbuch« für den deutschen Filmpreis nominiert. Er war Stipendiat der Villa Massimo in Rom (1998/99) und übernahm im Wintersemester 2007/08 die Poetikprofessur der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Jüngst von Krausser erschienen sind die Romane »Freundschaft und Vergeltung« (2024) sowie »Wann das mit Jeanne begann« (2022) und der Lyrik-Band »Glutnester« (2021, alle Berlin-Verlag).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.
Das Gedicht hat mich berührt. Sehr schön geschrieben.