»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Helmut Krausser
An der Ortsausfahrt Schwerin,
vor nem versifften Wohnmobil,
hockt eine Sexarbeiter*in.
Ist derzeit eine Illegale.
Sie verdient nicht halb so viel
wie neben ihr die Radarfalle.
Ich wollte, Schubert sähe das,
vergösse heiße Tränen und
komponierte daraus was,
mollancholisch moribund,
wie seinen Leierkastenmann.
Was er leider grad nicht kann.
© Helmut Krausser, Berlin und Rom
+ Das Original
Wilhelm Müller
Der Leiermann
Drüben hinter’m Dorfe
Steht ein Leiermann,
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann.
Barfuss auf dem Eise
Schwankt er hin und her;
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an;
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.
Und er lässt es gehen
Alles, wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.
Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir geh’n?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier dreh’n?
Anmerkung:
Groß herausgebracht und im Weltkulturgedächtnis verankert hat dieses Gedicht Franz Schubert: Der frühromantische Komponist aus Österreich war von Wilhelm Müllers Gedichtzyklus »Die Winterreise« so angetan, dass er ihn vertont hat, unter dem nahezu identischen Titel »Winterreise«. Das berührende »Der Leiermann« steht ganz am Ende der letztlich 24 Stücke und wird so in seiner besonderen Wirkung noch einmal unterstrichen.
+ Zum Autor
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen am Neckar, lebt als freier Autor in Berlin und Rom. Er verfasst u. a. Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Drehbücher, Gedichte, Libretti und Musikkompositionen. Mit »Fette Welt«, »Der große Bagarozy« und »Einsamkeit und Sex und Mitleid« wurden bereits drei seiner Romane fürs Kino verfilmt (1998, 1999, 2017). Krausser ist vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Tukan-Preis der Stadt München (1993) und dem Prix Italia für das beste europäische Hörspiel (2000). 2017 wurde er zusammen mit Lars Montag, der auch Regie führte, für »Einsamkeit und Sex und Mitleid« in der Kategorie »Bestes Drehbuch« für den deutschen Filmpreis nominiert. Er war Stipendiat der Villa Massimo in Rom (1998/99) und übernahm im Wintersemester 2007/08 die Poetikprofessur der Ludwig-Maximilians-Universität München. Jüngst von Krausser erschienen sind der Roman »Für die Ewigkeit« (Berlin-Verlag 2020) und der Lyrik-Band »Glutnester« (Berlin-Verlag 2021).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.