»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Patricia Falkenburg
Offenbarung.
Im Nebel gehen.
Erstaunen
In jedem Schritt.
Sickert in die
In Fremdheit gekleidete Erde.
Streicht entlang der
Fassaden und Bäume.
Geschärfte Aufmerksamkeit
Fokussiert auf die Essenz
Der Landschaft, die sich
Nach und nach erst, zögernd,
Der Erkenntnis und dem Blick
Offenbart.
Nimm sie mit
In die eiligen Tage
Des gewohnten Lichts!
© Patricia Falkenburg, Pulheim
+ Das Original
»Im Nebel« von Hermann Hesse ist die Vorlage für Patricia Falkenburgs Nebel-Gedicht »Offenbarung.«. Doch während sich in Hesses berühmten Versen die Einsamkeit alles Seienden und insbesondere jene des Menschen ausdrückt, also als ein negatives Bild eingesetzt wird, fungiert er bei Falkenburg als positiver Kontrapunkt zum Alltagsleben, als erkenntnisbefördernd und bereichernd. Das bedeutet auch, bei Hesse kann man sich dem deprimierenden Faktum des Einsamseins und Einsamseinmüssens höchstens passiv ergeben, bei Falkenburg jedoch wird wirkliches Handeln als sinnhaft und positiv gesehen und sogar direkt vom Leser gefordert. Hesse endet mit der feststellenden Klage: »Kein Mensch kennt den andern / Jeder ist allein.« Und Patricia Falkenburg empfiehlt lebensbejahend, auf die im Nebel entstandenen Eindrücke bezogen: »Nimm sie mit / In die eiligen Tage / Des gewohnten Lichts!«
In Bild, Aufbau und Sprache orientiert sich Falkenburg unübersehbar an ihrer Vorlage, verwandelt sich aber all diese Bereiche an. So verzichtet sie zugunsten einer moderneren Ausdrucksform auf Reim und Metrik, nimmt eine neue, eine entgegengesetzte Perspektive auf den gegebenen Betrachtungsgegenstand ein und verwendet, gering dosiert, etwas sperrigere Worte und erstaunlichere sowie damit auch nicht ganz so kinderleicht zugängliche Motive – wobei die Pulheimer Dichterin durchaus immer noch gut verständlich bleibt.
Falkenburg formt Hesses »Im Nebel« um, ein großer poetischer Zauber ist in beiden Poemen zu finden. Welchen Nebel-Spaziergang er bevorzugt, das kann jeder Leser für sich selbst entscheiden – gerne auch stimmungsabhängig immer wieder neu.
+ Zur Autorin
Patricia Falkenburg, geboren 1961 in Mannheim, wohnt seit 1999 mit ihrer Familie in Pulheim bei Köln. Promovierte Naturwissenschaftlerin (Molekularbiologin), Medical Writer, Lyrikerin. Veröffentlichung von Gedichten in Deutsch und Englisch, mit und ohne Fotovisualisationen, und von Lyrik-Videos. Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, Leipzig, und des PEN Freundes- und Förderkreises. Veröffentlichung von Texten fortlaufend bei »Lyrik in Köln« und in »Poesiealbum neu« (Nr. 1/2017 und Nr. 2/2017, edition kunst & dichtung) sowie den Anthologien »Von Fluchten und Wiederfluchten« und »Friedenlieben« (beide Geest-Verlag 2017).
www.patricia-falkenburg.com
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.