»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Volker Maaßen
Vergänglich
Sie konnten dreißig Jahre zu zweit
gemeinsam durchs Leben gehn.
Keine Minute tat ihnen leid,
doch langsam kam die Alleinsamkeit.
Sie konnten es nur nicht verstehn.
Die Liebe war mit den Jahren verraucht
und hörte auf keine Bitte.
Die Nähe hatte sie langsam verbraucht,
sie hatte das Feuer ausgehaucht,
übrig blieb: Haut und Gerippe
Nur selten noch reichte er ihr seine Hand
und konnte sie dabei nicht fassen.
Es war zerrissen, was lange sie band,
weil keiner mehr für den andern stand.
Sie hatten sich beide verlassen.
© Volker Maaßen, Hamburg
+ Das Original
Die Vorlage ist hier »Sachliche Romanze« von Erich Kästner. Volker Maaßen verwandelt sich dieses vielgerühmte und weit verbreitete Gedicht an, in dem das sang- und klanglose Scheitern einer Beziehung dargestellt wird. Er behält den sachlich-lakonischen Tonfall bei, der nur umso größere Tragik ausdrückt, und das Thema freilich ohnehin. Was sich verändert: die Perspektive. Maaßen bleibt allgemein, abstrakt, analytisch, während Kästner von eben jenem Blickwinkel, mit dem er auch beginnt, in die konkrete Szene wechselt, die Paar-Entfremdung in einer Cafészene kulminieren lässt, die szenisch deutlich macht, die beiden verbindet einfach nichts mehr bzw., wie Volker Maaßen es formuliert: »Sie hatten sich beide verlassen.«
Das Wort »Alleinsamkeit« ist ein Zitat aus »Wenn Ebbe ist« von Heike Suzanne Hartmann-Heesch, zuletzt erschienen in »Möwen hatte ich doch gemeint« (Wiesenburg 2017, Seite 29).
+ Zum Autor
Volker Maaßen wurde 1943 in Breslau geboren. Er lebt heute als Arzt und Autor in Hamburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: komische Gedichte und Kurzgeschichten (hier v. a. Segelgeschichten). Lyrisch baut er auf der Neuen Frankfurter Schule auf, zu deren Vertretern F. K. Wächter und Robert Gernhardt er in seiner Zeit in Berlin Kontakt hatte. Zuletzt erschienen sind von ihm u. a. die Gedichtbände »Lyrik auf Rezept« (Seemann Publishing 2017) und »Bitterleichte Lyrik II« (elbaol 2014) sowie der satirische Thriller »Tödliche Transaktionen« (Mohland 2014).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.