»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan Causa
die fliege
unbenannt und identitätslos
bis auf hebbels fliege im schlund der schwalbe oder balthasar
van der asts fliege im stillleben tulpe sommerschön
kosmopolit ohne einbindung
ansonsten lässt sie sich gehen und fliegen weiß aber immer
etwas mit sich anzufangen kennt keine nutzlosen
handlungen und gibt keine zeit verloren
vorteil der frühen sterblichkeit
mit der präzisen gelenkigkeit der mathematik und brennender
lust durchwandert sie die zarte architektur
der scheinbar an ihren beinen
emporgewachsenen glasscheibe auf die die sonne aus voller
schürze ihr feuer schüttet mit kraftvollem
drive hebt sie ab und
landet nach schnellem patrouillenflug ruckartig es scheint als
haspele sie in einer seitenkapelle ihres körpers
ein gedichtchen ab oder ein gebet
energiekern kämpferseele profi
sie sah sich in ihrem kurzen leben nicht zu sie handelte nun
lässt sie sich sterben auf einem bett wogender atome
aus eiter schweiß und kehricht
anders hält sie sich nicht aus
© Ingo Wachtmeister, Iserlohn
+ Das Original
Joachim Ringelnatz
Die Fliege im Flugzeug
Ich war der einzige Passagier
Und hatte – nur zum Spaße –
Eine lebende Fliege bei mir
In einem Einmachglase.
Ich öffnete das Einmachglas.
Die Fliege schwirrte aus und saß
Plötzlich auf meiner Nase
Und rieb sich die Vorderpfoten.
Das verletzte mich.
Ich pustete. Sie setzte sich
Auf das Schildchen »Rauchen verboten«.
Ich sah: der Höhenzeiger wies
Auf tausend Meter. Ha! Ich stieß
Das Fenster auf und dachte
An Noahs Archentaube.
Die Fliege aber – ich glaube,
Sie lachte.
Und hängte sich an das Verdeck
Und klebte sehr viel Fliegendreck
Um sich herum, im Kreise,
Unmenschlicherweise.
Und als es dann zur Landung ging,
Unser Propeller verstummte,
Da plusterte das Fliegending
Sich fröhlich auf und summte.
Gott weiß, was in mir vorging,
Als solches mir durchs Ohr ging.
Ich weiß nur noch, ich brummte
Was vor mich hin. So ungefähr:
Ach, daß ich eine Fliege wär.
+ Zum Autor
Jan Causa (i. e. Ingo Wachtmeister) wurde 1938 in Pyritz (Pommern) geboren. Nach dem Abitur trat er 1959 in die deutsche Luftwaffe ein, die er 1992 als Oberstleutnant vorzeitig verließ. Er lebt heute in Iserlohn als Pensionär und freier Autor. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind Lyrik und Kurzprosa. Im Jahre 2002 erschien sein heiterer-kritischer Prosaband »Baudissins Erben«. Er hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Ruhr-Mark-Lyrikpreis 2007. Er war Autor des Onlinemagazins »Der Skorpion – international« (Magazin für Literatur und Gesellschaft), das inzwischen eingestellt wurde. Causa ist Mitherausgeber und Autor des Berliner Onlinemagazins »Die Gießkanne«, Förderer der Neuausgabe der »Fackel« des Kösel-Verlags, München, und Stammautor der »Gedichte mit Tradition«. www.Jan-Causa.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.