»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan Causa
Das Schlüsselloch
oder Weihnachten 1948
Oh, ich erinnere mich noch:
Der weihnachtlichste Augenblick
für mich, das Gretchen, Hans und Nick
war’s Gucken durch das Schlüsselloch.
Zur Kirche mussten wir um vier,
doch nahmen jedes Bild und Wort
an diesem schönen, frommen Ort
wir gierig auf wie Löschpapier.
Und dann ging es nach Hause schnell
durch eine tiefe weiße Teerung.
Die Fenster strahlten herrlich hell,
die Eltern probten die Bescherung.
Die Füße waren nackt und kalt,
die Klotschen glitten hin wie Schlitten,
wir liefen durch den Flockenwald,
die Zeit kam hinterhergeritten.
Ums Schlüsselloch begann ein Ringen,
wir Kinder kreischten, tobten, sprangen.
Drinnen hört’ ich Stimmen klingen,
die die stille Nacht besangen.
Am Heiligabend – ein Jahr später –
zog Daddy Großes aus dem Köcher.
Das ist die Tat der guten Väter:
Die Tür besaß vier Schlüssellöcher.
© Ingo Wachtmeister, Iserlohn
+ Das Original
Joachim Ringelnatz
Das Schlüsselloch
Das Schlüsselloch, das im Haupttor saß,
Erlaubte sich nachts einen Spaß.
Es nahten Studenten
Mit Schlüsseln in Händen.
Da dachte das listige Schlüsselloch:
Ich will mich verstecken,
Um sie zu necken!
Worauf es sich wirklich seitwärts verkroch.
Alsbald nun tasteten die Studenten
Suchend,
Fluchend;
Mit Händen
An Wänden.
Und weil sie nichts fanden, zogen sie weiter.
Schlüsselloch lachte heiter.
(Die Herren erreichten ihr Zimmer nimmer.
Eigentlich war die Sache noch schlimmer.
Ich selbst war nämlich bei den Studenten –
Doch lassen wir es dabei bewenden.)
+ Zum Autor
Jan Causa (i. e. Ingo Wachtmeister) wurde 1938 in Pyritz (Pommern) geboren. Nach dem Abitur trat er 1959 in die deutsche Luftwaffe ein, die er 1992 als Oberstleutnant vorzeitig verließ. 1972 übernahm er die große, 10.000 Bände umfassende väterliche Bibliothek »Sammlung Pyritz« (antiquarische Bücher aus den Bereichen Bibliophilie, illustrierte und signierte Bücher, alte Drucke, Architektur, Kunst, Fotografie, Literatur / Erstausgaben des 17. bis 20. Jahrhunderts). Er lebt heute in Iserlohn als Pensionär und freier Autor. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind Lyrik und Kurzprosa. 2002 erschien sein heiterer, kritisch-satirischer Prosaband »Baudissins Erben. Die Bundeswehr von ihren Anfängen bis heute. Über 1000 Sprengsätze und Granatäpfel« (Fouqué). Er hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Ruhr-Mark-Lyrikpreis 2007. Er war Autor des Onlinemagazins »Der Skorpion – international« (Magazin für Literatur und Gesellschaft), das inzwischen eingestellt wurde. Causa ist Mitherausgeber und Autor des Berliner Onlinemagazins »Die Gießkanne«, Förderer der Neuausgabe der »Fackel« des Kösel-Verlags, München, und Stammautor der »Gedichte mit Tradition«. www.Jan-Causa.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.