»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Volker Maaßen
Enjambement in Farben
Manchmal spür ich
trotz der tausend kalten
grauen Gitterstäbe,
die mich im allerkleinsten Kreis
gefangen halten,
durch grüne Augen, dass ich lebe.
Breit und rot hängt
unter mir leis
und nur für mich
ein Sternschnuppenmund,
der mich fängt.
© Volker Maaßen, Hamburg
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
+ Zum Autor
Volker Maaßen wurde 1943 in Breslau geboren. Er lebt heute als Arzt und Autor in Hamburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: komische Gedichte und Kurzgeschichten. Lyrisch baut er auf der Neuen Frankfurter Schule auf, zu deren Vertretern F. K. Wächter und Robert Gernhardt er in seiner Zeit in Berlin Kontakt hatte. Zuletzt erschienen sind von ihm die Gedichtbände »Lyrik mit Gänsefüßchen« (Karina Verlag 2018; besprochen hier auf DAS GEDICHT blog von Sabine Zaplin) und »Lyrik auf Rezept« (Seemann Publishing 2017) sowie die Kurzgeschichtensammlung »Querschläger« (Karina Verlag 2018) und der satirische Thriller »Tödliche Transaktionen« (Mohland 2014).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.
Bin ich froh, dass ich trotz anfänglicher Bedenken – den Panther vom Rilke liebe ich sehr und weiß, damit stehe ich nicht allein – mir Volker Maaßens Zeilen einverleibt habe. Berührend und großartig. Anders, nicht ebenbürtig. Gerade deshalb.