Maria Luise Weissmann
Der Gorilla
Er atmet ihre Schwüle längst nicht mehr,
Doch lastet seinem Nacken immer noch der Traum der großen Seen
Und läßt ihn tief zum Sand gebückt und schwer
Im Takt zur Wiederkehr der Eisenstäbe gehn.
Er möchte wohl der Glanz der Papageien sein,
Das Duften der Reseden und der Walzerklang,
Doch bricht kein Strahl den trüben Spiegel seines Auges ein:
Die Hand trägt still gefaltet den beträumten Gang
Dem fremden Leuchten still und fremd vorbei.
Manchmal, im Schrei,
Der fernher trifft, fühlt er sich jäh dem Schlund
Des Schlafes steil emporgereckt entragen
Und knirschend seiner Stirne aufgewandtes Rund
An steingewölbte Firmamente schlagen.
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Anmerkung: »Der Panther« von Rilke ist mit klarem Abstand das am häufigsten genutzte Vorlagen-Gedicht dieser Reihe. Popularität und Angebot an vor allem inhaltlichen, jedoch auch formalen Anknüpfungspunkten sind hier zwei entscheidende Kriterien: Er gilt vielen meiner Dichterkollegen (sogar dann, wenn sie ihn einmal weniger zart weiterverarbeitet haben sollten!) wie auch mir als eines der besten deutschen Gedichte überhaupt; sie kennen ihn gut, tragen ihn im Geiste immer mit sich und beschäftigen sich gerne mit ihm. Und er lässt sich in vierlei Hinsicht uminterpretieren sowie thematisch (hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte von Leben und Gesellschaft), auf die Zeit bezogen sowie auch formal und sprachlich wahlweise gut originalnah nutzen oder auch neu denken.
Kleine Panther-Sammlung – das meint auch einen Zuchtaufruf mit schönsten Konsequenzen
Aus der großen Präsenz des Rilke-Panthers in »Gedichte mit Tradition« ergab sich der Gedanke, die »Panther«-Nachfolgegedichte quasi als kleine Sammlung innerhalb der Reihe leicht zugänglich zu machen sowie auch den Panther noch weiter zu stärken. Entsprechend habe ich Autorinnen und Autoren dazu aufgerufen, weitere »Panther«-Lyrik zu verfassen. So haben sich etwa auch Patricia Falkenburg (vorige Folge der »Gedichte mit Tradition«) und Jan Causa sowie Hans-Werner Kube (kommende Folgen) extra hierfür neu mit Rilkes »Panther« auseinandergesetzt – und ihre je ganz eigenen, stets wunderbaren Verse dazu gemacht. Es freut mich sehr zu sehen und zu erleben, wie so ein kleiner Aufruf zu tollem Wachsen von Kunst führt!
Zum Trinckler-Jaguar als Teil der Panther-Familie
In dieser Folge nun erscheint der panthergleiche Jaguar hochpolitisch und mit ausgeprägtem Bezug auf die jüngste Nachrichtenlage. Entsprechend habe ich Gabriele Trincklers Jaguar, der auch einen Gorilla als Ziehvater hatte (und ebenfalls inspiriert ist durch meinen kleinen Aufruf, was mich freilich besonders begeistert), den zuvor bereits angekündigten anderen »Panther«-Poemen vorgezogen. Er versetzt den Panther aus dem historischen Paris heraus und – ageregt hierzu auch durch Weismanns Gorilla, der letztlich, vom Wesen her betrachtet ein praktisch hundertprozentiger Rilke-Panther im Urwald ist – und als Jaguar hinein in den lodernden Regenwald unserer Tage und den Fokus der Nachrichten. Sein echtes und individuelles Tiersein bleibt ebenso und essenziell wie seine zeitlose und umfassende metaphorische Bedeutung für alles Kreatürliche und insbesondere den Menschen. Die aktuelle Momentaufnahme strahlt Grundsätzliches aus (wenngleich Rilke freilich noch ein Stückchen umfassender in seinem Ansatz erscheint als Trinckler, die einen wohl geringfügig spezifischeren Anklagepunkt gewählt hat). Kurzum: Eine andere Zeit, ein anderes Land, und ein Kommentar zu den Nachrichten (sowie freilich auch über sie hinaus) statt einer per se grundsätzlichen philosophischen Überlegung – und doch ist, sprachlich und formal übrigens dem Erstgeborenen überaus ähnelnd, hier dem Rilke-Panther mit dem Trinckler-Jaguar ein Blutsbruder geboren worden.
Alle Folgen auf einen Klick
Damit alle bisherigen und künftigen »Panther«-Gedichte mit nur einem Klick übersichtlich zugänglich sind, wurden die entsprechenden Folgen mit dem Tag »Der Panther« versehen; entweder unten auf den Tag klicken oder hier auf den nachfolgenden Link, dann steht die ganze »Panther«-Familie versammelt da:
https://www.dasgedichtblog.de/tag/der-panther/