»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Glücksmomente
in Lockdown-Zeiten
Sich selbst umarmen, sein Spiegelbild küssen und genau wissen, dass man nicht enttäuscht sein wird.
Sich jeden Tag 20 Sekunden die Füße waschen.
Gummihandschuhe aufblasen, um sein Lungenvolumen zu testen.
Vor Freude Desinfektionsspray versprühen.
Sich einen Mundschutz nähen und nicht benutzen.
Jeden Tag eine neue Kerze anstecken.
Vom letzten Stockwerk eines hohen Hauses heruntersingen und die halbe Gegend mit Dankbarkeit beschallen.
In seiner Wohnung wandern und dabei schön auf dem Teppich bleiben.
Auch dem Hefeteig beim Gehen zuzuschauen, kann zu einem Glücksmoment führen.
Sich damit begnügen, das Schonwaschprogramm zu gucken, dem Rhythmus der Spülmaschine lauschen und darauf warten, dass sich der Kühlschrank einschaltet.
Mit Klopapierrollen Jo-Jo und mit Spaghetti Mikado spielen.
Russische Eier zusammen puzzeln und sofort runterschlucken.
Eine Orange mit Nelken spicken und sich über die Ähnlichkeit freuen.
Einen Rasierapparat nehmen, bis die Frisur wieder sitzt.
© Michael Hüttenberger, Stedesdorf / Darmstadt
+ Zum Original
Inspiriert sind Michael Hüttenbergers »Glücksmomente« durch »Glücksfälle« von Wolf Wondratschek. Gedichtaufbau und -gestalt ähneln sich, die Tonalität findet zahlreiche Anklänge. Kernthema ist in beiden Texten zudem: die Absurdität des Moments, des situativen Seins, in dem ein Nichtsein mitschwingt. Geht’s bei Wondratschek allerdings um sprachspielerisch getragene Selbstmordvarianten, so ist die Todesnähe bei Hüttenberger allenfalls durch den Hintergrundgedanken gegeben, dass ein Krankheitserreger der Lockdown-Auslöser ist. Nein, bei ihm dreht sich’s eher um eine Feier des Lebens – wenn auch in denkbar ver-rückter Art.
Doch ist nicht auch das Wondratschek-Poem in gewisser Weise gerade lebensbejahend? Wer so viel offenkundige Freude empfindet wie dessen lyrisches Ich, und sei es auch nur via Selbstmordspielereien, der ist ja kaum ernsthaft suizidal gefährdert …
Hüttenbergers Verse wiederum offenbaren: Der Mensch, ein Meister der Anpassung, mag zwar etwas durchdrehen im Lockdown – mit ironischer Distanz sich selber dabei beobachtend, kann er aber durchaus eine gewisse Art der Freude und (Selbst-)Unterhaltung eben hieraus entwickeln. Und damit ist er dann dem sich selbst belustigenden und sich so sicher verhindernden Selbstmörder ja nicht eben unähnlich.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Darmstadt und Stedesdorf (Ostfriesland). Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013, zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik), Finalist beim Menantes-Preis für erotische Dichtung 2016 und Merck-Stipendiat der Darmstädter Textwerkstatt 2019.
Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett.
Zuletzt von Hüttenberger erschienen sind u. a.: »Der Bildungsstruwwelpeter – Lästige Geschichten und kritzelige Bilder über das deutsche Schulwesen« und »Auf den Busch geklopft – verdichtete Anmerkungen zum deutschen Schulsystem« (beide: Heinevetter 2018), »Ich Huhn, ich wollt, ich wär … – 111 human Identities« (Miniaturgeschichten; WK-Mediendesign 2016) und »Bärendienstag – Eine weihnachtliche Bärengeschichte« (Kinderbuch mit Illustrationen von Wiebke Logemann; Brune Mettcker 2015). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.