»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Tania Rupel Tera
Muttter
Ich trage dich wie ein Wort unter meiner Zunge
Das ich nie mehr laut aussprechen kann
Es schmerzt nicht immer. Und hindert nicht die anderen zu fließen
Nur manchmal plötzlich fällt es aus dem Mund
Und eine ungeheure Einsamkeit zersplittert mich in Stücke
© Tania Rupel Tera, München
+ Zum Original
Die inspirierende Vorlage ist hier das Gedicht »Mutter« von Gottfried Benn. Formal, in der Tonalität und in der Bildsprache ist Tania Rupel Teras Gedicht eng an Benns Verse angelehnt. Bezieht sich dieser, ganz zu seinem Arzt-Sein passend, allerdings auf eine ebenso konkrete wie verletzte Körperlichkeit – die sich wiederum denkbar leicht metaphorisch auflösen lässt –, auf Wunden, das Herz, die schmerzende Stirn, Blut, so verlagert die Wahlmünchnerin die Bildsprache in jene der Dichtung (sowie auch der bildenden Kunst, wenn man das Zersplitterungsmotiv so einordnen will und es also dem zweiten Tätigkeitsfeld der Künstlerin zuschreibt).
Besonders herauszuheben ist dabei, dass der Mund, mit dem Benn endet (hier wird Blut geschmeckt) in Tania Rupel Teras Gedicht das Ausgangsmotiv darstellt. In beiden Poemen geht es um den großen Schrecken, den unbenennbaren Schmerz – der immer da ist, immer mitläuft, der dabei jedoch nicht die ganze Zeit alles bestimmt. Der aber jederzeit plötzlich voll durchbrechen kann und sich sodann von ungeheurer, von erschütternder, von existentieller Kraft zeigt.
+ Zur Autorin
Tania Rupel Tera, geboren 1969 in Blagoewgrad (Bulgarien), lebt heute als Malerin und Autorin in München. Nach dem Studium von bulgarischer Philologie und Journalistik in Sofia 2005 Übersiedelung nach München, seit 2013 deutsche Staatangehörigkeit. Sie ist Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband (FDA) Bayern. Verfeinert hat sie ihre Menschenkenntnis und ihr umfassendes Weltbild auch durch ihre Tätigkeiten als Bibliothekarin, Illustratorin, Kellnerin und Damenmodeverkäuferin.
Von 1994 an Veröffentlichung von Erzählungen und Lyrik sowie eines Romans in bulgarischer Sprache (ein halbes Dutzend Bücher). Seit 2016 Veröffentlichungen auf Deutsch: »Der Schrei der Tropfen« (Lyrik- und Bildband, 2016), »Plötzliche Hunde« (Erzählungen und Impressionen, 2018), »Wundebar« (Lyrik und Jazz, Audio-CD, 2019; alle drei Titel: Salon Literatur-Verlag). Hinzu kommen Einzel- und Gruppenausstellungen als Malerin und Erfolge bei Literaturwettbewerben, etwa der 1. Platz im Landschreiberwettberb 2020 in der Sparte Lyrik.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.