»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Carl Reiner Holdt
Vor Erfindung der Postkarte
Korf, der neuerdings viel reist,
sendet Palmström just von dorten,
wo er weilt an fernen Orten,
etwas von der Stätte Geist:
So, von Zeit durchtränket schon,
aus Ägyptens Katakomben,
eigenhändig dort entnomben,
einen kleinen Scherben Ton.
Von Pygmäen, unverzehrt,
schickt, zwar unscheinbar zu schauen,
doch höchst sonderbar zu kauen,
Korf ein’ Schrumpfpilz im Kuvert.
Auch ein Sutren-Blatt ist da:
Weiß und rein, bar jeder Weisung,
ist’s der Großen Leere Preisung
(wohlgemerkt: der ohne ›h‹).
Oder eine Haselnuss,
die in Tee man, wie der Tibet
sie gehackt mit Butter liebet,
eingebrockt genießen muss.
Aus der Innren Mongolei
kommt ein Streifen Trockendung,
der, entzündt bei Dämmerung,
wärmt die Stube, kocht den Chai.
Fidschi sendt ein Eisenstuck:
Einst erwarb’s die Gunst der Frauen,
welche lieblich anzuschauen,
Seeleuten von Käpten Cook.
Wo vom Weltenmeeresrand
Pinguine ihren Frauen
Kiesel für den Nestbau klauen,
kommt ein Stein her: Feuerland.
Selbst zwar unverletzt, so doch
schickt v. Korf von seiner Weste
aus Amerika das Beste:
ein umsäumtes Einschussloch.
Trotz dass Palmström bleibt allhie,
ist beträchtlich sein Gewinn.
Reisen selbst führt nirgends hin,
außer man hat Phantasie!
© Carl Reiner Holdt, Rottenburg (bei Tübingen)
+ Das Original
Christian Morgenstern
Das böhmische Dorf
Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf,
in ein sogenanntes böhmisches Dorf.
Unverständlich bleibt ihm alles dort,
von dem ersten bis zum letzten Wort.
Auch v. Korf (der nur des Reimes wegen
ihn begleitet) ist um Rat verlegen.
Doch just dieses macht ihn blaß vor Glück.
Tief entzückt kehrt unser Freund zurück.
Und er schreibt in seine Wochenchronik:
Wieder ein Erlebnis, voll von Honig!
+ Zum Autor
Carl Reiner Holdt, geboren 1958 in Rom, ist im Neckartal bei Tübingen aufgewachsen, wo’s eng ist, wie er selbst betont. Er studierte Mathematik in Tübingen und Göttingen und lebte dann 20 Jahre in der Region Goslar als Mönch im Kloster. Dort und danach arbeitete er als Krankenpfleger, Gärtner, Erzieher und Lehrer. Heute wohnt er wieder normalbürgerlich bei Tübingen (genauer: in Rottenburg).Er schrieb als Mittdreißiger, besonders unter dem Eindruck großer Verliebtheit, erste Gedichte, große Schreibpausen folgten, ab 50 wandte er sich dann intensiver dem Romanschreiben sowie dem lyrischen Schaffen zu.
Seine Gedichte zeichnen sich meist durch eine große Zeitlosigkeit aus, was einerseits von seiner prägenden Zeit im Kloster herrührt und andererseits davon, dass er die grundsätzlichen Fragen des Lebens behandelt, aus der konkreten Szene heraus zwar, doch immer allgemeingültig und jeden betreffend. Um den Platz des Menschen in der Welt geht es da etwa, um Liebe und Einsamkeit, um Natur, Glaube und Wissenschaft und Philosophie. Romantische Anklänge sowie antike Reflexionen sind seinen Versen inhärent – und doch sind sie auch, in Technik, Sprache, Haltung, von jetzt.
Von Carl Reiner Holdt liegen der Science-Fiction-Roman »Gezeitenwechsel« (Südwestbuch 2011) und der Tarot-Krimi »Teufelsbrücken« (Dahlemer Verlagsanstalt 2023) vor. Dazu sind einige Gedichte von ihm bereits in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen (etwa »Loreleys Lover« zum Menantes-Lyrikpreis 2016 sowie Krautgarten, Dreischneuß und Dulzinea).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.