»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Helmut Glatz
Puzzle eins
Lösch aus dein Segelschiff und schlaf! Das ewig wache
Gelächter nur des alten Goldes tönt.
Wer aber Bart war unter meinem Atem,
hat sich stets bald an diesen Mund gewöhnt.
Zwar kann es einmal sein, wenn du schon mitten
im Schatten bist, dass Mauern gehn ums Haus.
Der Kalk beim Brennen knirscht von harter Trauer,
der schwarze Honig bleibt auf einmal aus
und du erwachst, dann musst du nicht erschrecken!
Die Lichter stehn vollzählig überm Land,
und nur ein Vogelkot fiel auf die Ziegelwangen,
der schöpft vom Tabak mit der hohlen Hand.
© Helmut Glatz, Landsberg
+ Die Originale
Ein nachgerade evolutionsbiologistisches Versexperiment hat Helmut Glatz mit seinen beiden »Puzzle«-Gedichten (für »Puzzle zwei« siehe die nächste Folge der »Gedichte mit Tradition«) angestellt. Er hat Hans Carossas »Der alte Brunnen« mit »Verlassene Küste« von Karl Krolow gekreuzt. Herausgekommen sind zwei Sprösslinge, die sowohl ganz unverkennbar Geschwister sind als auch ebenso eindeutig je höchst eigen. Sie folgen beide sowohl der zauberhaften Unentschlüsselbarkeit der expressionistischen Krolowschen Verse als auch der tiefen Romantik von Carossas Zeilen – und verneigen sich mit ernsthaftem Glanz und süffisantem Lächeln vor ihren Eltern, denen sie so nahekommen und denen sie dabei auf keinen Fall jemals wirklich gleichen wollen.
Die Eltern wiederum erweisen sich, bei genauerem Hinsehen, dabei schon als durchaus verwandt – wenngleich sie wohl eher Cousin und Cousine sechsten Grades oder so sind. Bei allen augenfälligen Unterschieden haben sie nämlich auch etliche Gemeinsamkeiten (die weit über das erstaunlich ähnliche Alter – weniger als drei Jahrzehnte liegen zwischen ihnen – hinausgehen), wie etwa starke Bildhaftigkeit, inhaltlich Verweis auf Vergangenes und Tradition bei gleichzeitiger Gegenwartsbindung, Prägung durch Reim (hier bei beiden: Kreuzreim mit wechselnden Kadenzen) und Metrik (Carossas Poem ist zwar im fünfhebigen Jambus und Krolows im vierhebigen Trochäus abgefasst, doch stellen beide metrischen Varianten absolute Standards in der deutschsprachigen Lyrik dar) sowie hochtraditionale Strophenform (vier Verse bilden eine Strophe).
+ Zum Autor
Helmut Glatz wurde 1939 in Eger geboren und lebt heute in Landsberg. Studium der Pädagogik und Psychologie in Augsburg und München. Lehrer, Rektor i. R. Schreibt Kinderbücher und phantastische Geschichten für Erwachsene, Theaterstücke für Schulen, Marionettenspiele u. a. Er ist Spielleiter des Marionettentheaters »Am Schnürl« in Kaufering sowie Gründer und Organisator des Landsberger Autorenkreises. Letzte Veröffentlichungen: »Professor Mistelmiefs gesammelte Ungereimtheiten« (komische Gedichte, Autumnus Verlag) und »Radibutz im Hut oder von der Schwierigkeit, in 85 Kapiteln eine kleine Maus zu erziehen« (Mäuse-Entwicklungsroman, Wolfgang Hager Verlag). www.HelmutGlatz.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.