»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Weihnachtshymne
Schenkt! Und sparet euch die Mühe:
Geld und Güter statt Verstand,
Dass der Weihnachtsumsatz blühe,
Handel, Internetversand,
Dass die Konjunktur nicht weiche
Jener Krise. Deflation?
Unsinn, wir sind eine reiche,
Wir sind d i e Konsumnation!
Wollen über und nicht unter
Nachbarn und Verwandten sein.
Wollt ihr sehn, was wir uns schenken?
Lieber größer als zu klein!
Wir gehören zu den Bessern,
Kaufen, Schenken ist nie dumm!
Denn wie Liebe soll’s uns scheinen.
Notfalls tauschen wir halt um.
© Michael Hüttenberger, Stedesdorf / Darmstadt
+ Das Original
Die direkte Vorlage für Michael Hüttenbergers »Weihnachtshymne« ist die »Kinderhymne« von Bertolt Brecht, die 1950 erstmals gedruckt sowie auch im gleichen Jahr noch von Hanns Eisler vertont wurde. Anlass für das Verfassen der »Kinderhymne« war für Brecht, dass die dritte Strophe des Deutschlandliedes von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben als Nationalhymne der BRD eingeführt wurde. Als gerade durch die Nazi-Vergangenheit nicht annehmbar sah Brecht diese Wahl. Entsprechend hat er das Deutschlandlied in eine unmissverständlich friedensbewegte Hymne umgearbeitet – anstatt lediglich die ersten beiden Strophen (u. a. »Deutschland, Deutschland über alles« enthaltend) zu streichen, wie es bei der bis heute gültigen Nationalhymne der Fall ist. Brechts »Kinderhymne« enthält zudem Anspielungen auf den DDR-Nationalhymne-Text, und in ihr wurde auch tatsächliche eine Alternative zur DDR-Hymne (»Auferstanden aus Ruinen« von Johannes R. Becher) gesehen. Letztlich aber kam die Alternative nie zum Zuge, wenngleich der Becher-Text um 1972 offiziell wegfiel und nur noch die ebenfalls von Hanns Eisler verfasste Musik als Landeshymne blieb. Im Zuge der Wiedervereinigung 1990 wurde dann u. a. von Bürgerinitiativen gefordert, die »Kinderhymne« als gesamtdeutsche Nationalhymne zu verwenden, doch letztlich erfolglos. Es blieb bei der dritten Strophe des Deutschlandliedes als Nationalhymne:
Deutsche Nationalhymne
(»Das Lied der Deutschen« von August Heinrich
Hoffmann von Fallersleben, dritte Strophe)
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Die »Kinderhymne«, die mit den Versen »Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand« beginnt, hatte sich jedoch natürlich längst als eines der bekanntesten Lieder, sein Text als eine der bekanntesten Dichtungen deutscher Sprache etabliert.
Michael Hüttenberger bietet mit seiner »Weihnachtshymne« also ein wahrhaft traditionsreiches Gedicht, das sich über Brechts »Kinderhymne« auf die deutsche Nationalhymne und »Das Lied der Deutschen« bezieht. In Inhalt, Reim, Aufbau und Länge ist es dabei recht eng am Brecht-Vorbild orientiert – referiert aber logischerweise und leicht erkennbar auch stark auf das Deutschlandlied sowie die deutsche Nationalhymne.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Stedesdorf (Ostfriesland) und Darmstadt. Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013 und zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik). Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Zuletzt von ihm erschienen u. a.: »Bärendienstag. Eine weihnachtliche Bärengeschichte« (Kinderbuch mit Illustrationen von Wiebke Logemann; Brune-Mettcker-Verlag) und »Ostfriesische Perspektiven« (Lyrik und Prosa; Druckwerkstatt Kollektiv Verlag). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.