»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Vereinsamt
Ich steh, allein.
Noch hab den Vorsitz ich nicht satt.
Ich sei ein Schwein.
Weh dem, der ein Vereinsamt hat?
Ich stehe starr,
Schau unter mich. Wie lange noch?
Bin doch kein Narr!
Wenn ich mich umschau – eher doch?
Ich bin ganz Ohr.
Okay, verdammt, dann tret ich halt
zurück. Was vor-
zumachen braucht mir niemand. Kalt
ist mir. Wird gleich,
Mir die Entlastung noch versagt?
Ich werde bleich.
Dass der zu kandidieren wagt!?
Der neue Star?
Gewählt, gezählt, man munkelts schon:
Einstimmig, harrr.
Kein blutend Herz, nur Hohn zum Lohn!
Ach, datt ist fein,
sagt meine Frau zu Haus: Ach, watt,
Du sollt’st Dich freun. –
Wohl dem, der kein Vereinsamt hat.
© Michael Hüttenberger, Darmstadt / Stedesdorf
+ Das Original
Friedrich Nietzsche
Vereinsamt
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist Du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Weh dem, der keine Heimat hat.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Darmstadt und Stedesdorf (Ostfriesland). Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013, zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik) und Finalist beim Menantes-Preis für erotische Dichtung 2016. Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Zudem ist er einer der zentralen Poeten von »Gedichte mit Tradition«. Zuletzt von Hüttenberger erschienen sind u. a.: »Ich Huhn, ich wollt, ich wär … – 111 human Identities« (Miniaturgeschichten; WK-Mediendesign-Verlag), »Bärendienstag. Eine weihnachtliche Bärengeschichte« (Kinderbuch mit Illustrationen von Wiebke Logemann; Brune-Mettcker-Verlag) und »Ostfriesische Perspektiven« (Lyrik und Prosa; Druckwerkstatt Kollektiv Verlag). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.