»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Thomas Glatz
Wer dichten kann ist Dichtersmann
Wer dichten kann ist Dichtersmann
Und hat ein grünes Verslein an
Am Hut ein fesch’ Oxymoron
Erkennt man ihn von Weitem schon
An seinem Wams ein Quodlibet
Dem Dichtersmann vorzüglich steht
Ein Täschlein voll Schnurren, Anekdoten,
Schusters Rappen voll Fußnoten
Wer dichten kann ist Dichtersmann
Man sieht es ihm von Weitem an
© Thomas Glatz, München
+ Das Original
Vorbild ist hier das titellose Gedicht H. C. Artmanns, das mit »Wer dichten kann / ist Dichtersmann« anhebt. Es gilt als eines der wichtigsten Werke des anno 2000 verstorbenen Wiener Poeten und zeichnet sich ganz wesentlich durch eine äußerst flapsige, einfache, ja schon ungelenke Sprachverwendung und ein überspitzt romantisch-naives Traditions-Dichterbild aus, das den Poeten aber letztlich gar politisch verortet: Er ist unabhängig, spricht nur für sich, vertritt allein seine Perspektive. Dies allerdings, diesen Versen zufolge, eher aus privaten Gründe, nämlich um seinen »jeweiligen Schatz« zu betören. In sich bleibt das Dichterbild vollkommen brüchig, es schwankt zwischen Tief- und Unsinn – und mutet immer wieder auch wie von einem vollkommen Ungeübten schnell hingeschludert an, also gerade nicht wie von einem geübten Könner und erfahrenen Dichtersmann abgefasst.
Thomas Glatz nun übernimmt wesentliche Elemente der Vorlage, wozu auch gehört, dass in die simplen Worte und dem Unsinn zumindest nahen schlichten Gedanken plötzlich Fachtermini eingestreut werden (bei Artmann ist dies das abschließende »pro domo«, das den Dichter in seiner Stellung in der Welt definiert). Dabei konzentriert er sich aber explizit vor allem auf den Dichter in seinem Bezug zur poetischen Sprache (was bei Artmann nur inhärent der Fall ist, wenngleich durchaus mit als Kern des Artmannschen Poems zu sehen), rückt ihn extrem in die Nähe romantischer Wandersmann-Idealfiguren, nur eben nicht mit Wanderutensilien, sondern spielerisch mit Dichterwerkzeug klar sichtbar ausgestattet. Seine Weltunabhängigkeit behält er dabei auch hier, als das sonderbare Wesen, das schon von Weitem auffällt, weil es so anders ist, und das eben alleine unterwegs ist (und damit noch unabhängiger als Artmanns Protagonist).
+ Zum Autor
Thomas Glatz, 1970 in Landsberg geboren, lebt als Künstler, Schriftsteller und Sozialpädagoge in München. Er studierte Sozialarbeit in Landshut und Bamberg sowie Bildende Kunst an den Kunstakademien in München und Helsinki. Als Autor verfasst er vor allem kürzere Prosa, Hörspiele, zuweilen Gedichte. Seit 2000 leitet er das »Archiv für Gebrauchs- und Benutztexte«. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. erhielt er 2007 das Heinrich-Gartentor-Stipendium des ersten und unabhängigen Schweizer Kulturministers, 2010/11 das Literaturstipendium des Freistaats Bayern, 2012 den Leipziger Hörspielpreis (zusammen mit Colin Djukic, Gerhard Lassen und Florian Schenkel), 2015 den Leserpreis der Gesellschaft der Lyrikfreunde. Zuletzt von Thomas Glatz erschienen sind: »Nuddernheim – ein Miniroman aus dem Neo-Biedermeier« und »Die übrige Zeit bis zum Bestimmungsort – ein Miniroman« (beide: Black Ink).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.