»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Simon Gerhol
Die Schwester der Loreley
Die Luft ist heiß und es dunkelt
am Asylantenheim
Der Giebel des Daches funkelt
Im Abendfeuerschein
Schönste Scheherazade sitzet
Dort oben sonderbar
Ihr dunkles Antlitz blitzet
Es brennt ihr lockiges Haar
Es brennt mit seltsamem Grame
Sie ruft um Hilfe dabei
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei
Die dumpfen Hirne der Szene
Ergreift’s davor kaum mit Weh
Sie schau’n nicht auf die Sirene
Sie schau’n, wie die Flaggen weh’n
Ich glaube, die Flammen verschlingen
Am Ende Stiefel und Wahn
Das haben unter Rufen und Singen
Protestler mit Courage dann getan
© Simon Gerhol, Grasbrunn
+ Das Original
Heinrich Heine
Die Lore-Lei
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldenes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei,
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
die Lore-Lei getan.
+ Zum Autor
Simon Gerhol, geboren 1968, Studium der Elektrotechnik in Stuttgart, lebt und arbeitet heute als Ingenieur in Grasbrunn bei München. Er schreibt seit seiner Jugend und ist der Meinung, dass »ein guter Text abhängen muss wie gutes Fleisch«. Er will ernste und Unterhaltungs-Literatur näher zusammenbringen, verfasst Kurzgeschichten, Romane und Gedichte. Seit 2013 erste Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften (u. a. in »Neue Sirene. Wegweisende Literatur der Gegenwart«, Nr. 29), dazu Lesungen. 2015 ist sein Kurzgeschichtenband »Reisende ohne Eigenschaften« (BoD) erschienen, bald soll mit »Terra Divisa« sein erster Roman folgen. Er ist Vorstandsmitglied des Münchner Literaturbüros (MLB). http://simon2muff.wixsite.com/simongerhol
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.