Humor in der Lyrik – Folge 32: Otto Reutter (1870 – 1931): »Alles wegn de Leut!«

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

Ach ja, der Otto Reutter, der war ja nur ein Couplet-Sänger, aber bitteschön doch kein Lyriker. Doch angesehene Literaten waren diesbezüglich ganz anderer Ansicht. So schrieb etwa Kurt Tucholsky, selbst ein Klassiker des Humors und des Chansons, unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im Berliner Tageblatt (Nr. 549) vom 18. Nov. 1919 über »Die Kunst des Couplets« folgendes:

»Die Ansicht der Deutschen, daß es keine ›Kunst‹ sei, ein Couplet zu schreiben, hat diese Liedgattung hierzulande so niedrig sein lassen, wie sie eben ist.« Die übliche Ansicht sei bedauerlicherweise: »Ein Couplet … das ist eine mehr oder minder roh zusammengehauene Sache, ein Sammelsurium faulster Witze, ein grobes Gedicht – zum Schluß mit dem unvermeidlichen Refrain, der möglichst zweideutig und möglichst unsinnig zu sein hat, damit er zieht. Ist das ein Couplet?« Natürlich nicht! »Das Couplet hat seine eigenen Gesetze. Es muß zunächst einmal mit der Musik völlig eins sein (das ist eine große Schwierigkeit), und dann muß es so aus dem Geist der Sprache heraus geboren sein, daß die Worte nur so abrollen, daß nirgends die geringste Stockung auftritt, daß die Zunge keine Schwierigkeiten hat, die Wortfolge glatt herunterzuhaspeln.«

Um »aus dem Couplet etwas durchaus Salonfähiges und Geistvolles zu machen«, so Kurt Tucholsky weiter, »gehören einige Kleinigkeiten dazu: Gesinnung, Geschmack und großes Können.« Was die Gesinnung betriff, so muss der Coupletdichter »politisch mutig sein.« Außerdem müssen seine Texte auch geschmackvoll sein, also frei von platten Witzen und albernen Zoten. Und nur dem Könner gelingt es, »Worte in Verszeilen miteinander abzuwägen, […], den einen kleinen, leisen Fehler zu vermeiden, der ein ganzes Couplet umwerfen kann, […] und den Refrain zu gestalten, daß er `sitzt´.« Nach Tucholskys Urteil ist das Otto Reutter bestens gelungen. Er schaffte es, »einen an sich farblosen Refrain durch den Vortext zu färben, ihm nun erst Gestalt und Inhalt zu geben.« Und so scheute sich Tucholsky nicht, Reutter mit »Jaroslav Hasek, dem Vater des göttlichen Schwejk« zu vergleichen.

»In fünfzig Jahren ist alles vorbei«, prophezeite Otto Reutter 1930. Wie sich zeigte, hatte der kleine Dicke aus Gardelegen mit dieser Behauptung Unrecht: Zwar starb der beliebte Couplet-Sänger nur ein Jahr später, aber seine Verse und einfachen, ins Ohr gehenden Melodien sind bis heute unvergessen. Ihm gelang es, die Form des Couplets zu einer humorvoll¬ kritischen Tages- und Zeitbetrachtung zu machen, zu einem vergnügli¬chen Glossarium menschlicher, aber auch gesellschaftlicher Torhei¬ten und Misslichkeiten.

Im Folgenden vier Strophen aus Reutters 24-strophigen Couplet
»Ach wie sind die Zeiten schlecht!«

Auf der Welt wird’s immer schlimmer, überall herrscht Traurigkeit.
Darum denken alle immer an die gute, alte Zeit.
Schrecklich sind die Zeiten heute – voller Kummer schrein die Leute:
»Wie´s uns geht, ist ungerecht – Ach, wie sind die Zeiten schlecht!

Selbst der Sperling auf der Erde jammert voller Traurigkeit:
»Früher gabs `ne Menge Pferde – ach, war das `ne schöne Zeit!
Heute, wo die Autos fliegen, riechts Benzin, doch `s bleibt nichts liegen,
unser Magen ist geschwächt – Ach, wie sind die Zeiten schlecht!

Früher warn – das laß ich gelten – noch `ne Menge Kinder da.
Heute sind die Kinder selten und – noch seltner der Papa!
Früher hatten unsre Kleinen allermindestens doch einen –
heut ist kaum die Mutter echt. Ach, wie sind die Zeiten schlecht!

Ja, man jammert auf der Erden immerfort, ich wette drauf:
Mag die Zeit auch besser werden, hört das Klagen doch nicht auf.
Mag auch Gutes nur geschehen, mags uns noch so wohl ergehen,
immer heißts – hab ich nicht recht? – Ach, wie sind die Zeiten schlecht!
 

Otto Pfützenreuter, wie Reutter in Wirklichkeit hieß, produzierte sich bereits als 10-Jähriger in Theatervorstellungen im elterlichen Hof. Später, so gestand er, »wollte ich zum Theater – Krach mit dem Vater – Kaufmann gelernt – heimlich entfernt!«

Nach der Kaufmannlehre riss er also nach Berlin aus, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben, versuchte sich an Schmierentheatern als Schauspieler und Komiker, bevor es ihn nach Karlsruhe verschlug, wo er sich einer Truppe von Wirtshaussängern und -komikern anschloss. Nach Engagements als »Salonhumorist« in Bern, Dresden, Düsseldorf und Köln erfolgte mit einem Auftritt im Berliner Apollo-Theater 1895 der Durchbruch des 25-Jährigen. Seither riss er mit witzigen Couplets und seiner unnachahmlichen Vortragsweise das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin, wurde ein Publikumsliebling und Kassenmagnet und gehörte bald zu Berlin wie die Spree.
 

Im Folgenden sechs Strophen aus dem 14-strophigen Couplet
»Sei modern!«

Sei modern, dann wird’s dir wohl ergehen –
lern’ das Tempo unsrer Zeit verstehen.
Fahr spazieren in der Luft geschwind,
wo die »oberen Zehntausend« sind.
Fährst du Bahn, fahr in der Polsterklasse –
auf dem »Holz«weg ist die breite Masse.
Weiche nie von weicher Sitzungsart,
denn nicht weich zu sitzen, das ist hart.

Sei modern und arbeit nicht so heftig –
fremder Schweiß erhält dich frisch und kräftig.
Bist du stets zur Arbeit nur bereit,
bleibt dir zum Verdienen keine Zeit.
Lebe flott, kannst ruhig Schulden machen,
doch nicht wenig, denn dann gehst du krachen.
Mach’ so viel, daß du die Gläub’ger bannst
und von deinen Schulden leben kannst.

Sei modern, du brauchst nicht brav zu bleiben,
du kannst schwindeln, tolle Sachen treiben,
komm als Prinz, betrüge voll Nobless’,
zeig dich in ‘nem Sexualprozeß.
Jede Zeitung wird´s dir honorieren,
Film, Theater wird dich engagieren –
Heutzutage frißt nur der sich satt,
der vorher was ausgefressen hat.

Sei modern, wenn Damen dich empfangen,
preise nie die Röte ihrer Wangen.
Dazu habn sie Schminke oft gewählt
und sie sind verpudert und vermehlt.
Preis auch niemals ihre blonden Haare,
denn die warn vielleicht noch schwarz vorm Jahre.
Wenn sie graue habn, die lobe recht,
denn die grauen, die sind meistens echt.

Sei modern, kommt dir auf deinen Wegen
mal ein Freund aus frührer Zeit entgegen,
frag ihn nie, wie’s geht, das wär nicht recht,
denn den meisten Menschen geht’s heut’ schlecht.
Stundenlang wird er sich an dich klammern –
drum, bevor er anfängt mit dem Jammern,
sei modern und pumpe du ihn an,
sollst mal seh’n, wie rasch der laufen kann.

Sei modern, will´s Alter dich bezwingen,
laß durch Affendrüsen dich verjüngen.
Doch das dauert lang, drum tu es bald –
bis du richtig jung bist, bist du alt.
´s gibt Verjüngte schon, die rumspazieren –
triffst du ein´n mit affigen Manieren,
darfst du nie »Sie alter Affe« schrei’n,
denn der kann auch mal´n Mensch gewesen sein.
 

»Sie sind der Einzige, dem ich hinterherlaufe«, gestand der Chef des »Wintergartens«. Schließlich betrug Reutters monatliche Spitzengage 6000 Goldmark und bald war er ein reicher Mann. Frank Wedekind, selbst ein Meister des Bänkelgesangs, be¬suchte regelmäßig die Vorstellungen dieses »Großmeisters des Varietees« im »Wintergarten« und sammelte seine Schallplatten. Hans Albers betonte immer wieder, er habe von Reutters solistischen Vorträgen mehr gelernt als vom gesamten Hamburger Schauspielerensemble. Und Karl Valentin, selbst Volkssänger wie Reutter, äußerte: »Den mog i! Des is a ganz Großer!«

Nach dreißig harten Berufsjahren wollte sich Otto Reutter 1919 zur Ruhe setzen. Geld hatte er genug verdient. Doch bedingt durch das Kriegsende und die Inflation verlor er sein Vermögen großenteils, was ihn zur Weiterarbeit zwang und ein Alterswerk entstehen ließ, das von Humor, Melancholie und Lebensweisheit geprägt ist.

Als Otto Reutter 1931 starb, hinterließ er mehr als 1000 selbst verfasste Couplets, darunter »Der Überzieher«, »Der gewissenhafte Maurer« oder »Ick wundre mir über gar nischt mehr«, die das Publikum noch heute wie vor Jahrzehnten amüsieren.

In seinem wohl berühmtesten Couplet mit dem Titel »In hundert Jahren ist alles vorbei«, heißt es unter anderem:

Denk stets, wenn etwas dir nicht gefällt,
es währt nichts ewig auf dieser Welt,
der kleinste Ärger, die größte Qual,
Sind nicht von Dauer, sie enden mal,
drum sei dein Trost, was immer es sei:
In 50 Jahren ist alles vorbei!

Und ist auch ein andrer klüger als du,
dann sei nicht dämlich – und lach dazu.
Was nützt sein Wissen – stirbt der vorher
bist du am nächsten Tag klüger als der.
Wer da weiß, daß er nichts weiß, weiß vielerlei –
und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.

Und liest du ‘ne Zeitung, dann schau nicht hin,
es steht ja doch bloß was Schlechtes drin.
Und schafft dir die Politik Verdruß,
es kommt ja doch alles wie´s kommen muß,
heut haben wie die, morgen jene Partei
Und in 50 Jahren ist alles vorbei!

Und sitzt du in der Bahn ganz eingezwängt,
und dir wird noch ´ne Frau auf den Schoß gedrängt,
und die hat noch ´ne Schachtel auf ihrem Schoß,
und du wirst die beiden Schachteln nicht los,
und die Füße werden dir schwer wie Blei,
In 50 Jahren ist alles vorbei!

Und fürchte Dich nicht, ist der Tod auch nah,
je mehr du ihn fürchtest, umso eher ist er da.
Vor´m Tode sich fürchten hat keinen Zweck,
man erlebt ihn ja nicht, wenn er kommt, ist man weg!
Und schließlich kommen wir all an die Reih
Und in 50 Jahren ist alles vorbei!

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

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