Humor in der Lyrik – Folge 60: Julie „Julchen“ Schrader (1881-1939), der „Welfische Schwan“

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

 

Poesie hat mit Phantasie und Kreativität zu tun. Und beides ist wahrlich im Spiel bei der legendären Julie Schrader, deren Existenz drei überraschende Kapitel hat:

Erstes Kapitel
In Hannover wurde Julchen Schrader 1881 geboren. Nach ihrer Schulzeit verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Magd, Vorleserin und Hausdame. Heimlich verfasste sie ein Tagebuch, und ein Kochbuch, das Rezepte für alkoholische Getränke – wie etwa den „heißen Cardinal“ – enthält. Neben Erzählungen und zwei Theaterstücken, „Der Cassernower“ und „Genoveva oder Díe weiße Hirschkuh“, schrieb sie aber vor allem naive, heitere Gedichte. Einige davon verehrte sie prominenten Persönlichkeiten ihrer Zeit, so etwa das recht frivole „Kirschenlied II“ Victor Hollaender, mit dem sie angeblich ein Techtelmechtel hatte:

Ich halte sie in meinen Händen!
Gott, Victor, sind die Kirschen groß!
Mit einer hätte es bewenden.
Du lieber Gott, wie kam das bloß??

Ein Mann, nicht groß, und solche Kirschen!
Sie gleichen fast dem Straußenei.
Wie hinderlich beim schnellen Pirschen!
Mich bringen sie zur Raserei …!!

Oder das nicht weniger frivole Lied an Otto-Held:

Kommt der Ostwind mit den derben
Kälteschauern über mich,
Will ich Deiner Treu ersterben,
Otto-Held, so lieb´ ich Dich!

Kommt der Abend so um neune
Dämmertrunken, sommerlich,
Bin ich pünktlich an der Scheune.
Otto-Held, dort lieb´ ich Dich!

Sollte Dich der Hafer stechen,
Ehe uns die Nacht beschlich,
Will ich mit der Herrschaft sprechen.
Otto-Held, dann komme ich!

Fürchtest Du die Roggen-Muhme,
Die schon manches Paar verblich?
Ich bin Deine Pusteblume …!
Otto-Held, ach, puste mich!

Doch in Buchform veröffentlicht wurde davon zunächst nichts.
Mit 41 Jahren heiratete Julchen 1922 Hermann Niewerth, einen recht schwermütigen Mann, der sie selbst in Depressionen stürzte. 1939 ertränkte sich die 58-Jährige in die Fluten der Fuhse bei Oelerse – Kreis Peine – und setzte ihrem kurzen, aber bewegten Leben ein tragisches Ende.

 

Julchen Schrader (1881 – 1939)

 

Zweites Kapitel
Ab 1968, also fast 30 Jahre nach Julchens Tod, trat dann ihr Großneffe Bernd W. Wessling (1935 – 2000) in Erscheinung, der nach und nach alle ihre „bis dato verborgenen“ Werke herausgab, darunter rund 2000 Gedichte, die sie hinterlassen hatte.
Vor allem über die humorvollen, trivialen Gedichte amüsierten sich die Leserinnen und Leser und Julchen wurde über Nacht bekannt. Ihre naiven nostalgischen Reimereien trafen den Gefühlsnerv der Zeitgenossen, die sich allerdings nie sicher waren, ob Julchen wirklich so naiv und dumm war, wie sie sich zum Teil in ihren Texten gab oder ob sie sich nur dumm stellte und alles mit einem klugen Augenzwinkern schrieb. Sie besaß die seltene Gabe, in schlichten kurzen Versen große Wahrheiten zu sagen. Was wurde von klugen Leuten beispielsweise nicht alles über Martin Luther geschrieben. Julchen brachte ihre Ansicht in vier Zeilen auf den Punkt:

95 Thesen schlugst Du an,
neulich hab ich sie gelesen.
Und ich denke dann und wann:
40 wären auch genug gewesen!

Ungeniert verarbeitete sie in ihren oft recht frivolen Gedichten aber auch ihre amourösen Abenteuer, wie in dem folgenden Gedicht:

Wenn ich liebe, seh ich Sterne,
ists getan, seh ich den Mond.
Ach, es war nur die Laterne!
Trotzdem hat es sich gelohnt.

Dora hat ein schweres Leben,
seit ihr Wilhelm wenig treu,
So ist es nun einmal im Leben
Hier der Weizen, dort die Spreu.

Dabei war sie eine Schönheit,
als er damals sich erklärt,
Leider hat des Körpers Dehnheit
längstens dieses umgekehrt.

Wilhelm blickt nach anderen Frauen.
Dora sitzt zu Haus allein.
Tät‘ sie nach der Linie schauen,
würd‘ das gar nicht nötig sein.

Obwohl ihre Affäre mit dem Komponisten Leo Fall nachweislich nie stattfand, bedichtete sie deren Ende mit folgenden Zeilen:

Du heil´ger Geist, du warst mein Fall!
Ach, Leo, komm´ zurücke!
Und hol´ das Zicklein aus dem Stall,
Damit es mich beglücke!

Ihre humorvollen Ein- und Zweideutigkeiten mit Zeilen wie; „In deines Glückes ungetrübten Stunden / hast lächelnd du mich an den Stuhl gebunden“, amüsierten die Leser und bald erhielt sie den Ehrentitel „Welfischer Schwan“ in Anlehnung an die Dichterin Friederike Kempner, die mit ihren unfreiwillig komischen Gedichten unter dem Namen „Schlesischer Schwan“ bekannt wurde.
Julchens Großneffe gab in der Folge aber auch ihre Tagebücher und Briefe heraus, ihre Erzählungen und ihre „hannöverischen Dramen“. 20 Bücher kamen nach und nach in die Buchhandlungen. 1989 endeten die Veröffentlichungen abrupt mit dem Titel „Laßt Amor schießen wann er will. Poeme, Briefe und Stücke des Wefischen Schwans“.

 

Drittes Kapitel
Schon drei Jahre nach den ersten von ihrem Großneffen herausgegeben Büchern zweifelte 1971 der Parodist Robert Neumann anhand sprachlicher Besonderheiten die Echtheit der Werke an. Sein Verdacht wurde 1976 durch die Herausgeber von „Kindlers Literaturlexikon“ bestätigt und im „Stern“ vom 10. Juni 1976 rüttelte dann die Schlagzeile „Der Schwan ist eine Ente“ die Leser wach. 1988/1989 nannte auch Gabriele Stadler im Hessischen Rundfunk Julchen Schrader einen „welfischen Schwan, der eine Ente war“. 1999 entlarvte auch noch der Literaturkritiker Werner Fuld in dem von ihm herausgegeben „Lexikon der Fälschungen“, dass der wahre Autor ihrer Werke ihr Großneffe sei. Vor allem die von Julchen beschriebenen sexuellen Abenteuer, so etwa ihre Affäre mit dem Komponisten Leo Fall hätten nie stattgefunden. Auch alle Informationen über Julchens Leben und Schaffen stammen von ihrem Großneffen Bernd W. Wessling, der bis zu seinem Tod als Herausgeber ihrer Werke auftrat. Der stritt zunächst ab, das Werk seiner Großtante erfunden zu haben, hielt aber alle ihre handschriftlichen Originale unter Verschluss, sodass deren Existenz angezweifelt wurde. Schließlich gab er zu, bei der Herausgabe zumindest als „Arrangeur, Polierer und Anmacher“ tätig gewesen zu sein.

 

Fazit
Auch wenn Julie Schrader wie jeder Mensch sicher einiges aufgeschrieben hat und sogar in den ersten Buchausgaben acht als Faksimile abgedruckte Gedichte von ihr zu sehen sind, so trifft doch wohl das Urteil der „Brockhaus Enzyklopädie“ (1982) zu, wonach ein Großteil von Julchens Werken vom Herausgeber ihrer Werke B. W. Wessling zumindest angeregt, arrangiert und poliert wurde. Auch wenn man dies alles weiß, so bereiten die naiven „Schraderschen-Wesselingschen“ Dichtungen aber durchaus noch immer Vergnügen, wie öffentliche Lesungen der Gedichte des „Welfischen Schwans“ oder Aufführungen ihrer Stücke beweisen.

 

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

 

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