Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.
Was kann schon aus einem werden, der als zwanzigstes (!!!] Kind eines Londoner Börsenmaklers zur Welt kommt? Wie das bei Börsenmaklern durchaus üblich ist, erlebt der Vater einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, verarmt danach und ist mit der Versorgung seiner zwanzig Kinder restlos überfordert. Aufgrund frühkindlicher epileptischer Anfälle glaubt Edward ständig zu ersticken. Er leidet unter Depressionsschüben und wird zum Außenseiter. Im Alter von vier Jahren kümmert sich seine einundzwanzig Jahre ältere Schwester Ann um ihn, doch er kapselt sich weiter ab und versinkt in Schwermut, vielleicht auch deshalb, weil alle Synapsen bei ihm dauerverrückt zu spielen scheinen und später geniale Nonsensliteratur ausspucken.
Nonsens als Unsinn zu bezeichnen ist übrigens totaler Unsinn, denn Nonsensiker produzieren einen alle Sinne übersteigenden Tiefsinn, den nur unsensitive Menschen als Unsinn bezeichnen können. Ab dem 15. Lebensjahr muss sich Edward selbst versorgen. Zum Glück besitzt er neben dem Sprach- auch ein ungewöhnliches Zeichentalent und verdient sich als Illustrator sein kärgliches Brot. Gerne porträtiert er Tiere aus dem Zoologischen Garten im Londoner Regent’s Park und erwirbt sich einen guten Ruf als ornithologischer Zeichner. Von den verkauften Bildern lebte er mehr schlecht als recht und gibt deshalb auch Zeichenunterricht, sogar der englischen Queen Victoria.
Mit seinen Nonsense-Gedichten unterhält Edward auf Schloss Knowsley, wohin ihn Edward Stanley, der 13th Earl of Derby, Präsident der Zoological Society of London, eingeladen hat, dessen Kinder, Enkel und Jagdgenossen und zeichnet die dort lebenden exotischen Tiere. Besonders gerne dichtet er aber Limericks, wie z. B. diesen:
There was an Old Man with a beard,
who said, “It is just as I feared!–
Two Owls an a Hen
four Larks and a Wren,
Have all built their nests in my beard!”
Es war mal ein Alter mit Bart
Besorgt, was an Vögeln sich paart
An Lerchen, Pirolen
An Eulen und Dohlen:
„Sie alle tun’s in meinem Bart!“
Lear ist ein Meister des „Limericks“, wie man das fünfzeilige Gedicht nennt, das vermutlich nach der irischen Stadt Limerick benannt ist, aber so genau weiß man das nicht. Bei einem Limerick reimen sich die ersten beiden und die beiden mittleren Zeilen und die fünfte und letzte Zeile mit den ersten beiden Zeilen, also „aabba“. Die a-Zeilen sind dreihebig, die b-Zeilen zweihebig, wobei zwei unbetonte Silben und eine betonte Silbe einander abwechseln. Die erste Zeile enthält oft eine Ortsangabe, die letzte eine meist skurrile Pointe.
Es war einst ein Alter aus Wick,
der sagte: „Ticktick ticketick“,
tschickabuh tschickabix –
und sonst sagte er nix,
der lakonische Alte aus Wick.
In den Limericks Lears treten skurrile Gestalten auf, die wie Irre versponnen in Wahnsinn agieren und den Leser einen Blick in die Untiefen der viktorianischen Epoche gestatten. Als die Zahl seiner Limericks anwächst, veröffentlicht Lear 1844 siebzig Texte, von ihm mit kleinen Zeichnungen illustriert, als Buch mit dem Titel „A Book of Nonsense“ unter dem Pseudonym „Derry down Derry“ und landet damit einen Bestseller. Als Autor vermutet man irrtümlich den Earl of Derby, weshalb sich Lear in der dritten Auflage als Urheber des Werks outet.
Wie seine Limerickhelden allerorts zu Hause sind, unternimmt auch Lear gerne Reisen durch ganz Europa, kommt bis nach Indien und zum Himalaya und hält sich 1855 auf der Insel Korfu auf.
There was an Old Man of Corfu,
Who never knew what he should do;
So he rushed up and down,
Till the sun made him brown,
That bewildered Old Man of Corfu.
Es war mal ein Mann aus Korfu,
„Ich weiß gar nicht, was ich hier tu!“
Wild hin und her er rennt,
Bis die Sonne ihn verbrennt,
Der sehr verwirrte Mann aus Korfu.
Die letzten sechzehn Lebensjahre verbringt Lear einsam an der Riviera, wo er weiter vor sich hinreimt und malt oder auch nur einfach in die Luft starrt. San Remo wird zu seinem letzten Aufenthaltsort, wo er 1888 stirbt. Mit seinem umfangreichen Oeuvre von Limericks und Zeichnungen beeinflusste der „king of nonsens“ zahlreiche Autoren, darunter Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Heinz Erhardt oder Robert Gernhardt. Bis heute regt er viele reimfreudige Menschen zu mehr oder weniger gelungenen Limericks an.
Edward Lears Selbstbeschreibung:
Sein Geist ist konkret und anspruchsvoll,
seine Nase ist bemerkenswert groß;
sein Gesicht ist mehr oder weniger scheußlich,
sein Bart ähnelt einer Perücke.
»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.