Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 25: »¿TE ACORDÁS, MARÍA, EL TANGO QUE NOS CANTÓ OLGA OROZCO EN TU CASA ROSARINA? –IM GESPRÄCH MIT DER ARGENTINISCHEN DICHTERIN UND SÄNGERIN MARÍA LANESE: ›VOLVAMOS A CHARLAR‹«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Die argentinische Dichterin und Sängerin María Lanese kommt gerade mitten im August 2017 aus Ripalimosani, wo sie wenige Monate nach Kriegsende im Sommer geboren wurde. Ihre Familie verließ vier Jahre später die italienische Heimatregion Molise, Campobasso, schiffte sich auf dem Überseedampfer »Santa Croce« ein und wanderte nach »America« aus, wie es damals in Italien allgemein hieß; nun genauer gesagt, nach Argentinien. Dort wuchs sie in Rosario auf, ging zur Schule und Universität, wurde Psychologin und ist seit vielen Jahren im Kultur- & Kunstbereich tätig.

Ich war vor vielen Jahren schon einmal in meinem Geburtsort Ripalimosani, einem kleinen Dorf mit Natursteintreppen, die daraufhin in meinen Träumen erschienen. Meine Vorfahren waren Kleinbauern, mein Vater hatte als Kind die Schafe gehütet. Jene erste Reise vor drei Jahrzehnten beeinflusste meine ersten Gedichte, die unerklärlicherweise in einer Mischung aus Spanisch und gelegentlich Italienisch, meiner Muttersprache, entstanden. Diesmal kehrte ich auf den Wegen der Wanderschäferei nach Ripalimosani zurück – dank der Kulturinitiative »cammina, Molise! 2017«. So tauchte ich jetzt anders in die Ursprünge meiner Identität ein. Diese Wanderung übersetzt sich in mir in eine neue Sinnhaftigkeit meiner künstlerischen Arbeit.


 

María Lanese
BEMOL

Eso que empieza en la suela de los zapatos
y le pega a uno los pies.
Eso que aprieta, una vez que sube
angosta
comprime
lo reduce a uno a un golpe seco.
Eso que hace gritar
¡por qué!
Eso que gira, agota y perfora las palabras
sin que pueda ninguna dar razón.
Eso que se nota en la cara
que convierte la voz
en un cascajo
y la espalda
en un despojo contra la pared.

Eso
¿será el dolor?
 

María Lanese
B-DUR

Das, was an den Schuhsohlen beginnt
und gegen die Füße schlägt.
Das, was drückt, wenn es aufsteigt,
einengt,
zwängt,
verringert einen zu einem trockenen Schlag.
Das, was zu dem Schrei führt,
warum!
Das, was kreist, erschöpft und die Wörter aushöhlt,
ohne einen einzigen Grund nennen zu können.
Das, was man dem Gesicht ansieht,
was die Stimme
in ein Ächzen
und den Rücken
in ein Überbleibsel an der Wand verwandelt.

Ist das
etwa der Schmerz?
 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
 

María Lanese gehört zu den argentinischen Autoren mit unmittelbar italienischem Migrationshintergrund wie beispielsweise Antonio Porchia (1885 im kalabrischen Conflenti geboren), Irma Peirano (1917 im ligurischen Chiavari, Provinz Genua, geboren) oder Antonio Dal Masetto (1938 in Intra, Piemont, geboren). María Lanese veröffentlichte mehrere Lyrikbände. Ihre Gedichte wurden ins Deutsche, Englische, Französische, Italienische, Mazedonische und Serbische übersetzt. Sie las bei diversen Internationalen Poesiefestivals und anderen Poesieveranstaltungen, u.a. in Belgrad, Buenos Aires, Cali, Herceg Novi, Madrid, Mailand, Struga, Smederevo oder Rosario. Zu ihrem Repertoire als Sängerin gehören u.a. lateinamerikanische Volkslieder und Tangos wie »Vamos de nuevo«.
 

María Lanese
MIGRANTES

La felicidad
es el canto del gallo
en los caseríos
apacibles de los montes
es la ropa impregnada
de humo eterno
en las estepas
la mirada punzante del zahorí
en el desierto
algunos atardeceres
en la planicie son
a veces la felicidad
el silencio de los templos
el amor inesperado
el rumor de las acacias
diferente al roce de las espigas
la idea de infinito
el agua rodando entre las piedras
las aspas del molino
el viento entre las crines
el mar
de lejos
la deriva en las páginas
espesas
de los libros.

La felicidad
es una palabra
difícil de pronunciar
en las lenguas dominantes.
 

María Lanese
MIGRANTEN

Das Glück
ist der Hahnenschrei
in den friedlichen
Gehöften in den Bergen
ist die Kleidung
vollgesogen mit ewigem Rauch
der Steppen
der scharfe Blick des Sehers
in der Wüste
einige Abenddämmerungen
in der Ebene sind
manchmal das Glück
die Stille der Tempel
die unverhofte Liebe
das Rauschen der Akazien
anders als die Berühung der Ähren
der Gedanke des Unendlichen
das polternde Wasser zwischen den Steinen
die Windräder der Mühle
der Windhauch in den Pferdemähnen
das Meer
aus der Ferne
die Abdrift in den dichten
Seiten
der Bücher.

In den vorherrschenden Sprachen
ist Glück
ein Wort
das schwer auszusprechen ist.
 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
 

María, erinnerst du dich an den Tango, den uns Olga Orozco in deiner Wohnung in Rosario sang?

Ja, ich erinnere mich daran. Es war ein besonderes Privileg, ihre Sirenenstimme an einem wunderbaren Nachmittag gemeinsam in meiner Küche zu hören. Es war ein kaum bekannter Tango, ein Tango mit Kategorie! Olga Orozco, die große argentinische Dichter, eine sensible, einzigartige Person! Ich denke, nur sehr wenige haben sie singen gehört. Vor 22 Jahren war Olga Orozco anlässlich des »3. Internationalen Poesiefestivals« in Rosario, das ich damals mitorganisiert hatte.
 

María Lanese
ANDANTE

Una mujer cansada
cuelga sus pañuelos de llorar
en la ventana.

Pasa un hombre de los que coleccionan
llantos de mujer
trepa a la ventana
descuelga y guarda esos pañuelos
en su bolsillo
sin reparar siquiera en la mujer
que llora
detrás de la ventana.

Es entonces
cuando ella
entiende
saca del bolsillo
sus pañuelos de mujer
se descuelga por la ventana
se aproxima a ese hombre
–que colecciona mujeres–
y se lo mete en el bolsillo.
 

María Lanese
ANDANTE

Eine erschöpfte Frau
hängt ihre Klagetücher
ans Fenster.

Ein Mann kommt vorbei, einer von denen,
die Klagen von Frauen sammeln,
klettert ans Fester,
hängt diese Tücher ab und steckt sie
in seine Hosentasche,
ohne zumindest auf die Frau zu achten,
die hinter dem Fenster
weint.

In diesem Augenblick,
da sie
begreift,
nimmt sie ihre Frauentücher
aus der Tasche,
hängt sich aus dem Fenster,
nähert sich diesem Mann
–der Frauen sammelt–
und steckt ihn in die Tasche.
 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
 

»María Lanese ha construido una poesía del tiempo, del amor y de la nostalgia que toca a menudo lo magistral.«
Raúl Zurita

Der chilenische Dichter Raúl Zurita charakterisierte deine Gedichte wie folgt: »María Lanese hat eine Poesie der Zeit, der Liebe und der Nostalgie erschaffen, die oftmals das Meisterhafte berührt.«

Ich bin eine späte junge Dichterin. Ich komme von der Musik, vom Gesang, in dem ich mich künstlerisch ausdrücken konnte. Das hat meine Poesie später grundlegend beeinflusst. Auf diesem Weg war das Wort als poetisches Wort großer Dichter stets interessant für mich, deren vielfältige Weisheiten zu gedanklichen und kreativen Wegweisern meines Lebens wurden. Meine Gedichte entstehen deshalb eben nicht am Schreibtisch, sondern aus Impulsen, Entdeckungen, Wünschen und Inspirationen, die mich zum Schreiben veranlassen. Auf diese Weise verfolgte ich schreibend die tiefen Spuren meiner Identität.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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