Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse lasen wir aus dem Lyrikwerk von Juan Gelman – anlässlich seiner zweisprachigen Buchneuerscheinung »País del dolor – Leidland« (Ausgewählt, übertragen und mit einem Vorwort von Walter Eckel, Rimbaud Verlag, Aachen 2017), eine poetische »Hommage à Juan«, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 3.
Die »Hommage à Juan« fand in Kooperation mit dem Argentinischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main, dem Übersetzungsprogramm SUR des Argentinischen Außenministeriums in Buenos Aires, dem Heidelberg Center Lateinamerika der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg in Santiago de Chile und dem Stuttgarter Literaturverlag Edition Delta statt, bei dem zuletzt die mehrsprachigen Lyrikbände von Juan Gelman »com/posiciones & dibaxu / debajo – kom/positionen & darunter« und »Mundar – Welteln« erschienen sind.
Über Aurora Bernárdez (1920-2014), der Ehefrau des argentinischen Romanciers Julio Cortázar (1914-1984), wurde der argentinisch-jüdische Dichter Juan Gelman (1930-2014) in den 1980er Jahren auf die wunderbar jetzigen sephardischen Gedichte von Clarisse Nicoïdski (1938-1996) aufmerksam, die er als »diaphan wie ein Feuer« charakterisierte. Sie inspirierten ihn in seiner Pariser Exilzeit zu dem berühmten sephardischen Werk »dibaxu« (debajo – darunter)«, das 29 Gedichte plus seine jeweiligen spanischen Parallelversionen versammelt.
Juan Gelman
Im Exil ist die einzige Heimat die Sprache.
Juan Gelman
Schon in den 1990er Jahren vertonte außerdem die argentinisch-jüdische Sängerin Dina Rot die Lieder »Una manu tumó l‘otra« (Eine Hand nahm die andere), Madrid 1996/1999/2006, eine Auswahl dieser innovativen sephardischen Gedichte von Clarisse Nicoïdski und Juan Gelman.
Nachfolgend sein sephardisches Schlussgedicht »XXIX«, zur Einstimmung gelesen von Juan Gelman selbst.
Juan Gelman
DIBAXU
XXIX
no stan muridus lus páxarus
di nuestrus bezus/
stan muridus lus bezus/
lus páxarus volan nil verdi sulvidar/
pondrí mi spantu londji/
dibaxu dil pasadu/
qui arde
cayadu com‘il sol/
Juan Gelman
DEBAJO
XXIX
no están muertos los pájaros
de nuestros besos/
están muertos los besos/
los pájaros vuelan en el verde olvidar/
pondré mi espanto lejos/
debajo del pasado/
que arde
callado como el sol/
Juan Gelman
DARUNTER
XXIX
nicht gestorben sind die Vögel
unserer Küsse/
gestorben sind die Küsse/
die Vögel fliegen ins grüne Vergessen/
ich werde meinen Schrecken in die Ferne legen/
unter die Vergangenheit/
die glüht
schweigsam wie die Sonne/
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
Der Salzburger Essayist und Literaturkritiker Karl-Markus Gauß schrieb in seiner Betrachtung »Sonnen sammeln« darüber bemerkenswerterweise: »›Dibaxu, Debajo, Darunter‹ ist ein Zyklus von neunundzwanzig Liebesgedichten, wobei hier nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache, des Autors zum Sephardischen gemeint ist. Im einen wie im anderen Falle ist die unio mystica das Ziel dieser Liebe, die Verschmelzung, die die Grenzen zum geliebten Menschen, zur geliebten Sprache aufhebt.«
»DIBAXU (DEBAJO) – DARUNTER « von Juan Gelman bei Edition 350 kaufen
»COM/POSICIONES & DIBAXU (DEBAJO) – KOM/POSITIONEN & DARUNTER« von Juan Gelman bei Edition Delta kaufen
»PAÍS DEL DOLOR – LEIDLAND« von Juan Gelman bei Rimbaud Verlag kaufen
»MUNDAR – WELTELN« von Juan Gelman bei Edition Delta kaufen
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.
[…] zu den wesentlichen und unentbehrlichen Grundpfeilern jetziger sephardischer Poesie (siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 28). […]