Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 35: »›PARK‹ NR. 70: POESÍA DE MÉXICO – LYRIK AUS MEXIKO: JOSÉ ÁNGEL LEYVA, NATALIA TOLEDO, MANUEL CUAUTLE…«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Kürzlich feierte die Literaturzeitschrift »PARK« ihr 40. Jubiläum, herausgegeben vom Berliner Lyriker, Literaturwissenschaftler und Celan-Jahrbuch-Editor Michael Speier, dem zu diesem nachhaltigen Lyrik-Engagement weiterhin herzlich zu gratulieren ist.

Nun erschien das Heft 70 mit dem Dossier »Lyrik aus Mexiko«, das er auch in Mexiko-Stadt vorgestellt hat. Aus den dort versammelten Gedichten von sieben Dichterinnen und Dichtern – Iliana Godoy, Natalia Toledo, Maricela Guerrero, Víctor Manuel Mendiola, Pedro Serrano, José Ángel Leyva und Manuel Cuautle – folgen drei zweisprachige Beispiele, die das hiesige Interesse an neuer mexikanischer Lyrik wecken mögen.
 

José Ángel Leyva

Fantasmas

A veces
siento presencias que rozan las paredes
me obliga su rumor a pronunciar
vocales que imitan el trote fugaz
de sus nostálgicos corceles
Nativas lenguas suelen mover el aire
de su nombres primitivos
Sé quién pasa inexistente
Lo reconozco sin sexo ni edad
Puedo llamar su imagen de un nosotros
sin pellejo sin forma sin sustancia
con la mirada por todos los rincones de la casa
Se me viene a la garganta el sorbo con asientos
De una taza de café frío
 

Phantome

Manchmal
fühle ich Präsenzen an den Wänden streichen
ihr Rumoren zwingt mich Vokale zu formen
die den flüchtigen Trab
ihrer nostalgischen Rösser nachbilden
Muttersprachen pflegen die Luft zu rühren
mit ihren genuinen Namen
Ich weiß, was da wesenlos vorübergeht,
sehe, es ist alters- und geschlechtslos
Ich kann sein Bild von einem Wir hervorrufen
hautlos formlos ohne Substanz
mit Blicken in alle Winkel des Hauses
Es rinnt durch meine Kehle ein Schlückchen
Kaffeerest, erkaltet.

Übersetzt von Emma Julieta Barreiro
 

Natalia Toledo

Natalia (poeta y cocinera)

Hay días en que amanezco hermosa
y no me es posible
cumplir con el rostro iluminado,
entonces tengo que emborracharme
porque jamás he soportado ser bella.
 

Natalia (gunaa rucaa diidxa li ne rutoo guendaró)

Nuu dxi rirayá’ gueela’ nua’ sicarú
ne qui rizaaladxe’ guuya guzaani’ lua’
ni runetiá rixudxe’
naa qui huayuu dxí chualaadxe’
gaca’ sicarú.

(Zapotekische Version)
 

Natalia (Dichterin und Köchin)

Tage gibts, da bin ich beim Aufwachen schön
und bring es nicht fertig,
so strahlendem Gesicht gerecht zu werden,
dann muss ich mich besaufen,
denn nie konnte ich es ertragen, schön zu sein.

Übersetzt von Uwe Bennholdt-Thomsen
 

Manuel Cuautle

El día sábado me atemoriza

no sé qué encontraré en sus silencios
en sus sombras

no sé si podré deletrear
cada sílaba cuando llegue
si las luces de ese día
me alumbren o me enceguezcan
el día sábado
debería ser lunes o miércoles
pero no sábado

incluso
podría ser un día que no existe
y llevarse al silencio
a las sombras
a las palabras
a la oscuridad de la luz que me atormenta
 

Der Samstag macht mir Angst

weiß nicht was ich finden werde
in seinem Schweigen

weiß nicht ob ich ihn buchstabieren kann
Silbe für Silbe wenn er kommt
ob die Helle eines solchen Tages
mich erleuchtet oder blendet
der Samstag
sollte ein Montag oder ein Mittwoch sein
aber kein Samstag

er könnte sogar ein Tag sein
den es nicht gibt
und das Schweigen forttragen
zu den Schatten
zu den Wörtern ins Dunkel
mich quälenden Lichts

Übersetzt von Emma Julieta Barreiro
 

Die aktuelle Ausgabe »Heft 70« der Zeitschrift für neue Literatur »PARK« mit dem zweisprachigen Dossier »Lyrik aus Mexiko« ist in jeder guten Buchhandlung (ISSN 0944-917) erhältlich oder per E-Mail park53@aol.com bestellbar.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Im Februar erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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