Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Im Februar 2019 wurde sein 120. Geburtstag drei Tage lang beim Jibanananda-Festival in seiner Geburtsstadt Barisal gefeiert. Barisal im östlichen Gangesdelta und Kolkata im westliche Gangesdelta sind die bengalischen Lebensorte des modernistischen Dichters Jibanananda Das. Er war einer der herausragenden Zeitgenossen von Rabindranath Tagore, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 24.
Aus dem berühmten und preisgekrönten Werk »Banalata Sen« (Original: বনলতা সেন) von Jibanananda Das, das er zuerst 1942 und erweitert 1952 in Kolkata veröffentlichte, stammt sein Gedicht »Path hanta« (Die Straßen von Babylon), welches wir aus der englischen Übersetzung »The Streets of Babylon« von Chidananda Das Gupta ins Deutsche übertragen haben.
Auf diesen fulminanten Dichter aus Bangladesch, der am 22. Oktober 1954 in Kolkata an den Folgen eines Straßenbahnunfalls starb, machte uns Aminur Rahman unlängst in Dhaka aufmerksam, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 20.
JIBANANANDA DAS
DIE STRASSEN VON BABYLON
Nicht weiß ich, welch leises Flüstern mich dazu brachte,
durch die Straßen der Stadt zu laufen, allein, von einer Ecke zur andern.
Ich habe die Bahnen und Busse getreulich zirkulieren sehen,
zum Tagesende fahren sie dann hinein in die Welt des Schlafes.
Die lange Nacht über erfüllen die Gaslampen ebenso sehr ihre Pflicht;
nichts irrt sich: Backsteine und Häuser, Fenster und Dächer,
allesamt schließen zuletzt ihre Augen unter dem Himmel.
Ich habe ihren Frieden in meinen Knochen gespürt,
als ich durch die toten Straßen der Nacht lief; sah,
wie sie sich um die Turmspitze versammelt haben; es scheint, als hätte ich
kein schlichteres, bewegenderes Ereignis gesehen. Die sternenhelle Stadt
mit lauter Türmen, das Auge senkt sich zum glühenden Zigarettenstummel,
der Büschel Heu ist vom Wind mitgerissen worden.
Ich schließe meine Augen und gehe zur Seite – der Baum
hat viele bräunlich verblasste Blätter abgeworfen, die umhergeflogen sind.
So bin ich durch die Straßen von Babylon und Kolkata
in der Stille der Nacht gelaufen.
Warum? Ich weiß nicht mehr, als ich schon Jahrhunderte zuvor wusste.
Ins Deutsche übersetzt von Juana & Tobias Burghardt
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.