Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 5: »SÄTZE AM NECKAR: DER GUATEMALTEKISCHE MAYA-DICHER HUMBERTO AK‘ABAL«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Unsere Koordinaten lauten: Bogotá, Medellín, Tokyo, Stuttgart, Malmö, Bremen, Oldenburg, Dresden, Stuttgart, Rotterdam, Zürich. Dazu gehören einige Cafés, Festivals, Telefonate, Gespräche, Blätter, Spaziergänge, Fahrten, Schreibereien, Übertragungen, Wörter, Pläne, Abschiede, Büchersendungen, Stifte, Freuden, Gläser Honigwein, Holztreppen, Chilischoten, Lachsalven, Papiere, Weisheiten, Wartezeiten, Maiskolben, Witze, Distanzen, Fotos, Blicke, Begrüßungen.


 

Dein ursprünglicher Name ist doch eigentlich Kaqulja Ak’abal und bedeutet in der Mayasprache Quiché…

… »Sturm am Morgen«, aber mein Vater durfte mir damals nur einen spanischen Vornamen geben: Humberto.

Kolumbus entdeckte Amerika…

…ich entdecke das deutschsprachige Europa und die französische Schweiz.

Als dir der erste Internationale Poesiepreis »Blaise Cendrars 1997« in Neuchâtel (Neuenburg) verliehen wurde…

…sagte mir ein Zuhörer, dass meine Poesie wie ein Schokoladenbonbon sei, das unmittelbar auf der Zunge zerschmilze; andere machten lange Würste, die keiner verdauen könne.

Du schreibst in der alten Mayasprache Quiché und auf Spanisch…

…meine Muttersprache Quiché hat drei Bedeutungen: »viele Bäume oder Wald«, »Agavenpflanzung« und »süßer Baum«. Das Spanische eroberte seinerzeit Amerika – und ich erobere heutzutage die spanische Sprache.

Du bist 1952 im guatemaltekischen Bergdorf Momostenango, Provinz Totonicapán, geboren…

… »Wohin ich auch gehen mag, / ich trage im Kopf einen Stein, / um mein Volk nicht zu vergessen.«

Poesie ist deiner Ansicht nach…

… »Feuer /, das in einem brennt / und im anderen, / ansonsten wird es irgendwas sein, / aber nicht Poesie.«

Unter Frieden verstehst du…

…zu machen, was man mich damals nicht machen ließ, aber ohne den Kopf zu verlieren.

Bei Poesiefestivals fällt dir auf…

… »Die Dichter sind wie die Bienen, / andere essen, / was sie hervorbringen.«

Rigoberta Menchú ist…

…im Sommer geboren, wie sie mir einmal in Italien erzählte, deshalb sei sie nicht so sehr gewachsen.

Gedichte können…

…das Herz bewegen, aber eben keine Diktatoren entthronen.

Am heutigen Guatemala schätzt du…

…die Unterentwicklung: »In diesem kleinen Land / ist alles weit entfernt: // das Essen, / die Literatur, / die Kleidung…«

Du bist jetzt knapp über sechzig Jahre alt…

…und ich bereue es wirklich nicht.

Als du früher einmal Schafhirte warst…

…lernte ich, mit den Tieren sprechen.

Die deutsche Sprache klingt für dich…

…wie Pferdegetrappel.

Als kleiner Junge wolltest du stets…

…groß sein; jetzt bin ich erwachsen und möchte wieder ein Kind sein.

Wenn du den Neckar entlang spazierst und die Menschen beobachtest…

…denke ich, dass kein anderer sonst aus Momostenango stammt.
 

Humberto Ak’abal gehört zu den herausragenden Dichtern der neuen indigen Poesiebewegung Lateinamerikas, die regelmäßig umfassend beim weltweit größten Poesiefestival in Medellín vorgestellt wird. Wir lernten Kaqulja im Juni 1996 in Kolumbien persönlich kennen. Im »Rowohlt-Literaturmagazin 38: Nueva Poesía América Latina – Neue lateinamerikanische Poesie« (1996) veröffentlichten wir als Mitherausgeber u.a. einige mehrsprachige Gedichtbeispiele – in deutscher Übersetzung von Erich Hackl, den wir dazu einluden. In der 5. Ausgabe von »DAS GEDICHT« (1997) folgten weitere seiner Gedichte, ebenfalls dreisprachig, die wir selbst übersetzten, im Lateinamerika-Dossier.

Von Humberto Ak’abal erschien kürzlich ein neuer Gedichtband, inzwischen sein fünfter Einzeltitel in deutscher Übersetzung. Seine Lesungen sind eindrucksvoll. Hier zwei Beipiele aus dem Jahr 2012: in der Fundación Centro de Poesía José Hierro, Madrid, sowie beim V. Poesiefestival »Las lenguas de América, Carlos Montemayor« im Saal Nezahualcóyotl, Ciudad Universitaria, Mexiko-Stadt, das unübersetzbare Gedicht »Cantos de pájaros« (Vogelgesang).

Der österreichische Autor und Übersetzer Erich Hackl legte im Frühjahr 1998 den ersten ins Deutsche übersetzten Auswahlband »Trommel aus Stein« von Humberto Ak’abal im Zürcher Unionsverlag vor. Wir veröffentlichten den dreisprachigen Band »Uxaq che’ xuquje ik’ – Hojas y luna – Blätter und Mond« im Herbst 1998, begleitet von einer in Medellín 1996 geschriebenen poetologischen Skizze des berühmten brasilianischen Dichters Haroldo de Campos.

Als Humberto Ak’abal uns 2002 in Stuttgart besuchte, erarbeiteten wir in der Stuttgarter Edition Delta die »Manuskripte Dreier Kontinente« mit viersprachigen, signierten und nummerierten Handschriftenausgaben (Maya-Quiché / Spanisch / Deutsch / Vietnamesisch), darunter »Chunan / Encalado / Kalkanstrich / Quét vȏi« von Humberto Ak’abal, die schnell vergriffen waren.
 

Handschrift Humberto Ak‘abal
Handschrift Humberto Ak‘abal

 

Humberto Ak‘abal

Blätter

Die gefallenen Blätter
erinnern nicht,
von welchem Baum sie stammen,

nicht einmal,
dass sie Blätter waren.
 

Übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
 

2005 folgte sein Gedichtband »Das Weinen des Jaguars« in der österreichischen Edition Thanhäuser, übersetzt von Erich Hackl, sowie 2014 im Frauenfelder Waldgut Verlag seine Sammlung »Geistertanz«, ebenfalls von Erich Hackl ausgewählt und ins Deutsche übersetzt. Erich bevorzugt vornehmlich zielsprachige Ausgaben, das ist leserfreundlich, und bringt wenige Originalbeispiele der Urfassungen in Maya-Quiché; auf die parallelen Autorenfassungen im Spanischen verzichtet er gänzlich, wenngleich er daraus übersetzt. Ihn reizt die unmittelbare transkulturelle Reibung zwischen der Mayasprache Quiché und dem Deutschen. Das gelingt ihm bestens. Natürlich ist der Dichter Humberto Ak’abal ein zweisprachiger Dichter. Und seine spanischen Versionen erneuern aus dem poetisch-mythischen Blickfeld der Maya-Perspektive jene heutige Lyriksprache weiter Teile Lateinamerikas und Spaniens. Das faszinierte auch damals Haroldo de Campos – und weiterhin etliche andere Bewunderer der poetischen Werke von Humberto Ak’abal.

Im Band »Geistertanz« finden sich u.a. zwei wunderbar unübersetzbare Gesänge – »Ubixonik ri q’aq‘ (Gesang des Feuers)« und »Die Stimmen des Wassers« – sowie ein Gedicht über »Linkshänder«, das erstaunen lässt und nachdenklich machen kann. Ein großartiger Dichter!
 

Humberto Ak‘abal

Linkshänder

Linkshänder sind Seelen,
die zurückgekehrt sind.

In ihrem vorherigen Leben
haben sie nicht alles erledigen können;
deshalb kommen sie wieder, um es
mit der linken Hand zu Ende zu führen.

Kommen wieder, um die Hand zu benutzen,
die sie in ihrem vorherigen Leben geschont haben.
 

Übersetzt von Erich Hackl
 

BÜCHERLISTE VON HUMBERTO AK’ABAL

Humberto Ak’abal: Geistertanz»Geistertanz«
im Waldgut Verlag kaufen

Humberto Ak’abal: Das Weinen des Jaguars»Das Weinen des Jaguars« in der Edition Thanhäuser kaufen

Humberto Ak’abal: Chunan / Encalado / Kalkanstrich / Quét vȏi»Chunan / Encalado / Kalkanstrich / Quét vȏi« in der Edition Delta (vergriffen – aber in den großen Bibliotheken zu Frankfurt, Leipzig, Stuttgart und Karlsruhe ausleihbar)

Humberto Ak’abal: Uxaq che' xuquje ik' – Hojas y luna – Blätter und Mond»Uxaq che’ xuquje ik’ – Hojas y luna – Blätter und Mond« in der Edition 350 im Verlag der Kooperative Dürnau kaufen

Humberto Ak’abal: Trommel aus Stein»Trommel aus Stein« im Unionsverlag kaufen

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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