Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
2021 wird Novi Sad zur Kulturhauptstadt Europas. Einen guten Einblick in die dortige Szene bot in der letzten Augustwoche das »Vierzehnte Internationale Novi Sader Literaturfestival 2019« unter der Leitung des serbischen Dichters Jovan Zivlak und der Schriftstellervereinigung der Vojvodina, nördlich der Flüsse Save und Donau.
sve pesme smo ispevali. s glasovima
visokim
i one što su na rubovima ničega
neki kažu beše samo jedna
Jovan Zivlak, NAPEV
alle gedichte haben wir zu ende gedichtet. mit hohen
stimmen
auch diejenigen an den rändern des nichts
manche meinen es war nur eines
Jovan Zivlak, MELODIE
Übersetzt von Zlatko Krasni unter Mitarbeit von Michael Speier.
Unter den eingeladenen Dichtern begeisterte die Zuhörerschaft, u.a. der 1960 in der Normandie gebürtige Dichter Étienne Faure, der bereits im Frühjahr in Paris für seinen jüngsten Gedichtband »Tête en bas« (Kopfüber) mit dem renommierten »Prix Max Jacob 2019« für französischsprachige Poesie ausgezeichnet worden war.
Im Rahmen des Festivals wurde die junge Semendrianer Poetin Kristina Milosavljevič, geboren 1997 in Smederevo, für ihren in Belgrad bei PPM Enklava 2019 erschienenen Debütband »Piši kad stigneš« (Schreibe, wenn du mal Zeit findest) mit dem neunundfünfzigsten Preis für junge serbische Lyrik »59. Brankova nagrada 2019« geehrt, während der versierte ungarische Textperformer und »Neo-Avantgardist« Endre Szkárosi für sein poetisches Werk mit dem »Novi Sader Literaturpreis 2019« gewürdigt wurde. Soweit zu den diesjährigen Prämierungen.
An zwei Nachmittagen gab es literarische Gesprächstermine im »Café Absolut« an der zentralen Flaniermeile Zmaj Jovina ulica mit anschließenden absoluten Balkonlesungen zum Sonnenuntergang, ein außergewöhnliches Erlebnis – quasi als lyrische »Fiddler« auf pannonischer Dachhöhe. Und bei den anhaltend tropischen Temperaturen fanden zu späterer Stunde im Foyer des »Theaters der Jugend« (Pozorište mladih) die drei Abendlesungen statt. Ausführliche Interviews und Kurzporträts der Dichterinnen und Dichter befinden sich im Katalog des »Vierzehnten Internationalen Novi Sader Literaturfestivals 2019«.
Individuelle Akzente setzten dabei u.a. der spanische Dichter Eduardo Moga aus Barcelona, der britische Lyriker Ahren Warner, der polnische Dichter Jacek Napiórkowski, der französische Poet Jean-Luc Despax, der junge russische Lyriker, Musiker und Maler Ilja Andrejewitsch Kozlov aus St. Petersburg und die russische Dichterin Valentina Valentinovna Jefimovskaja. Die meisten serbischen Übertragungen las souverän der unermüdliche Schauspieler Pedrag Momčilović-Moca.
Von den zahlreichen serbischen Dichterinnen und Dichtern beeindruckten vor allem Dejan Aleksić, Irina Hardi Kovačević und Đorđe Kuburić. Das Internationale Novi Sader Literaturfestival wurde vom Lyriker Viktor Radun koordiniert und von einem hochkarätigen Übersetzungsteam flankiert.
Weitere Schwerpunkte bildeten ein ungarisch-serbischer Literaturaustausch mit einer Anthologie aktueller ungarischer Poesie in serbischer Übersetzung sowie ein Symposium, das sich mit der Problematik plus Infragestellung von Kapitalismus, Intellektuellen und Literatur eingehend beschäftigte.
In der nächsten Ausgabe der serbischen Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kultur »Zlatna greda« erscheinen die ins Serbische übersetzten Gedichte der andersprachigen Dichterinnen und Dichter, die am »Vierzehnten Internationalen Literaturfestival 2019« in Novi Sad teilgenommen haben.
Novi Sad gehört zu den qualitativ guten und wesentlichen Poesiefestivals mitten im Herzen Europas. Vielleicht wird ja eines hellen Tages die europäische Idee als kulturelles Projekt gesichtet und wahrgenommen, wie es hier allenthalben erlebt worden ist.
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.