Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

Allerorts steht die Zeit momentan still. Fast still. Oder schwebt – im halbleeren Raum. Ein flüchtiger Augenblick, um sich zu entsinnen, was war & gewesen ist. Vorerst. Zuletzt. Noch vor einigen Tagen, wenigen Wochen, knappen Monaten…
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Vor dem »February«-Buchmessen-Monat der »Amar Ekushe Grantha Melā« in Bangladesch, zu dem die überwiegende Mehrzahl der Neuerscheinungen auf den dortigen Buchmarkt kommt, fand am 11. Januar 2020 in der südasiatischen Metropole Dhaka ein literarisches Highlight statt, über das die Medien (TV, Zeitungen usw.) landauf & landab berichteten.
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Der Hauptstadt-Dichter Aminur Rahman lud ins Auditorium des BRAC-Zentrums in Mohakhali, Dhaka, ein, um seine groß angelegte Anthologie der heutigen Weltpoesie mit dem Originaltiel »পৃথিবী সেরা সমকালীন কবিদের কবিতা« (Pr̥thibī sērā samakālīna kabidēra kabitā – Die Gedichte der besten zeitgenössischen Dichter der Welt), die er über 35 Jahre ins Bangla übersetzt hat, zu präsentieren.

Sein Werk stellt 35 Dichterinnen und Dichter aus allen Kontinenten auf annähernd 400 Buchseiten – mit einem ansprechenden abstrakten Gemälde des Künstlers Maksudul Ahsan auf dem Schutzumschlag des annähernd 1 kg schweren Hardcovereinbandes mit ultramarinblauem Lesebändchen – in der poetischen Sprache Tagores vor. Darunter befinden sich Kazuko Shiraishi und Tendo Taijin aus Japan, Claribel Alegría, Gioconda Belli und Ernesto Cardenal aus Nicaragua, Lee Kuei-hsien und Miao-yi Tu aus Taiwan, Ahmad Kamal Abdullah und Malim Ghozali PK aus Malaysia oder Tulasi Diwasi aus Nepal, um einige vielerorts bekannte Namen zu nennen.

Auf dem Podium saßen renommierte Autorinnen und Autoren aus Bangladesch wie etwa Shihab Sarkar, Selina Hossain, Jahidul Huq, Habibullah Sirajee, Mohammad Nurul Huda, Muhammad Samad, Fakrul Alam sowie Anisuzzaman, der Präsident der Bangla-Akademie für Sprache und Dichtung, die jeweils aus sehr unterschiedlichen Gesichtswinkeln über dieses einmalige – oder besser: erstmalige, weil einzigartige – übersetzerische Werk sprachen. Die beliebte Schauspielerin und Rezitatorin Tropa Majumdar und der erfahrene Rezitator Hasan Arif trugen danach eine feine Auswahl der ins Bangla übersetzten Gedichte der Weltpoesie vor.

In »Blütenstaub« schrieb Novalis u.a. über die poetische Aufgabe der Übersetzungen und des Übersetzers selbst: »Er muss der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können.« In diesem Sinn gilt Aminur Rahman nun als ›Dichter der Dichter‹, der seiner grandiosen Muttersprache Bangla, die schließlich zu den ersten 8 Weltsprachen gehört, mit dieser weltweiten Anthologie ein glanzvolles poetisches Geschenk macht. Dhanabad tomaké, Aminur!
ADDENDUM – #WorldPoetryDay2020
Während ich dies hier niederschreibe, erreicht mich ein am »Welttag der Poesie« 2020 geschriebenes zweisprachiges Gedicht (Bangla-Englisch) des indischen Dichters Biplab Majee aus Midnapore, Westbengalen, mit dem wir noch in der letzten Dezemberwoche 2019 in Kolkata zusammentrafen, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 53.

Das nachfolgende Gedicht von Biplab Majee, das wir nun gleich im Addendum ins Deutsche übersetzen, beleuchtet die globale Stimmungslage – auf unter null Komma nichts ausgerichtet. Aktuell steht die Zeit überall beinah still.
বিপ্লব মাজী
পৃথিবীর শেষ কথাটি কে বলবে?
পৃথিবীর শেষ কথাটি
কে বলবে?
তুমি, না আমি, না অন্য কেউ?
আমরা কেউই জানি না,
মহাধ্বংসের কিনারে দাঁড়িয়ে আছি,
পায়ের নিচে অতলস্পর্শী খাদ!
পৃথিবীর
সকল ধর্ম সকল জাতির দেবতারা
অন্ধ হয়ে গেছেন,
প্রতীক্ষা শুধু সেই মাহেন্দ্রক্ষণের
যখন মুহূর্তে
সবকিছু শূন্যে মিলিয়ে যাবে,
মানবসভ্যতা তলিয়ে যাবে
খাদের অন্ধকারে,
তারপর সবকিছু নীরব চিৎকার
চিরতরে…
## ২১ মার্চ ২০২০ দুপুর
Biplab Majee Who Utters the Last Word?Who utters the last word In this universe? Either you or myself or someone else? Nobody knows We are standing at the brink of A Great devastation, There is an Uneven shaft under our feet! Gods and goddesses of all The Nations and religions turn blind We are waiting for that sacred moment When everything Will be vanishing into Void Human civilization will melt into the darkness of the pit Then there remains Only silent screaming For ever…## March 21, 2020 English version by the author |
Biplab Majee Wer verkündet das letzte Wort?Wer verkündet das letzte Wort In diesem Universum? Entweder du oder ich oder sonst wer? Niemand weiß es Wir stehen an der Schwelle Einer große Verwüstung, Es gibt einen Unebenen Schacht unter unseren Füßen! Götter und Göttinnen aller Nationen und Religionen werden blind Wir warten auf diesen heiligen Augenblick Wenn alles verschwinden wird in der Leere Die menschliche Zivilisation wird hineinschmelzen ins Dunkle der Grube Dann bleibt da Nur stilles Schreien Für immer…## 21. März 2020 Übersetzt von Tobias & Jona Burghardt |
© Biplab Majee

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.